Erst nach und nach treten die Wände hervor aus dem Dunkel, zeichnet das Licht des Tages die Kontur des Scheunentores. Duster ist es noch, aber gar nicht so still, wie erwartet. Es ist wohl der Wind, der sie glauben macht, es rumore irgendjemand in den Stapeln ausrangierter Gegenstände herum.
Ein Schatten löst sich aus der Dunkelheit. Der Schreck fährt ihr in die Glieder und sie kann den Aufschrei nicht unterdrücken. Wie misstrauisch sie geworden ist, skeptisch gegen alles Unvorhergesehene. Liegt es an der Fremde, oder liegt es an ihrer noch jungen Vorsicht vor einem allzu aufdringlichen Liebhaber?
Vor ihr steht kein Liebhaber, vor ihr steht eine geduckte, fast devote Landfrau in weiten Röcken und gescheiteltem Haar. Oma Frieda en miniature. Ihr ebenförmiges Gesicht gleich dieser Herbstlandschaft – sanft liegende Felder, blitzendes Wasser zwischen stoppeligen Wiesen.
»Ich hab nirjends niemand nicht jefunden« , spricht sie freudlos umschattet. Nur ihre Augen funkeln, als habe ein Jäger sein Wild aufgebracht.
Rita versucht, auf diese Stimme zu lauschen, die ihr fremd und doch so vertraut vorkommt. Für einen Moment denkt sie an die alles verneinenden Lutkis, die nur in Omas alten Geschichten zum Leben erwachten. Doch dann weiß sie, dass alles wahrhaftig ist. Eine alte Frau aus Fleisch und Blut, nicht so alt wie Oma Frieda und mit lebendigem Gemüt. In ihrem Nacken hängt genau wie bei Oma Frieda ein Nest aus dünnen, geflochtenen Zöpfen.
Von irgendwoher kommt ihr die Alte bekannt vor. Ihre Witterung als Journalistin und ihre Unkenntnis einer Lebensflüchtigen mahnen Rita Georgi zur Vorsicht. Sie zupft ihr leuchtend rotes, halblanges Haar, das sie hinter das linke Ohr gesteckt hat, wieder ins Gesicht zurück.
»Hallo, ich bin Rita…äh... Riana Gora. Ich ziehe demnächst hier ein.
Die alte Frau beugt sich wie aus Gewohnheit etwas nach vorn, aber es muss eine sehr dumme oder eine verdammt alte Gewohnheit sein.
»Ich wohne gleich drieben , bei Kalauke«, sagt sie mit lang rollendem R und mit einem hörbaren W in der Mitte des Namens. Die Stimme der Alten ist schrill, irgendwie verzerrt, aber der Name Kalauke erinnert Rita sofort an ihre Großmutter und wie die ihr einst einen Buchstaben zeigte, den es im deutschen Alphabet gar nicht gibt. Es war ein L durchschnitten von einer gebogenen Linie: £. Und sie hört noch genau, wie Großmutter sagte, es sei das Kalauke-W. Man spricht Kawauke.
Inzwischen hat sie sich an die Düsternis gewöhnt und sieht, wie die Alte mit dem krummen Finger auf eine Stelle unter ihrer Bluse aus blauweißer Batik tippt. Sie strahlt dabei über ihr soeben noch fades Gesicht. »Lenka. «
Sofort spürt Rita eine starke Scheu davor, ihre angeborene Freundlichkeit erkennen zu lassen. Ihr schwant, so, wie die Alte sie gerade überrascht hat, so könnte es noch einige Überraschungen mehr geben, und die würden nicht nur angenehm sein.
»Lenka?«, ihr Lachen ist eine Melange aus Rücksicht, die fortwährend Platz macht für das eigene Wollen, und blanker Empörung, die angelernt und ausprobiert werden muss. »Wie der Autolenker? Namen gibt es hier.«
» In Dokument steht Helene, aber wendisch ist Lenka«, sagt die Frau und unterschlägt dabei das H am Anfang des Namens, als gäbe es diesen Buchstaben gar nicht. Dann erzählt sie in ziemlichem Kauderwelsch zwischen dem Wendischen und dem Deutschen von einem Kuno, der nur noch mit Stichbimboli rede, und von einem Juri spricht sie, der Georg heiße, was der aber gar nicht gerne höre.
Es scheint, als erfahre sie noch in der ersten Woche alle dreihundert Lebensgeschichten der Dörfler. Wie konnte sie nur vergessen, dass sie bald auf einem Kuhkaff wohnt.
Sie muss noch lernen, die Menschen erst zu testen, um zu wissen, was sie denken, wie sie urteilen, was sie erwarten. Auf so kleinen Dörfern ist man schnell vereinnahmt, und das kann sie gar nicht gebrauchen. Da hätte sie bleiben können, wer und wo sie war. Und dann denkt sie noch, dass sie es für dieses Dorf lernen muss, schon beim Denken nicht mehr Rita zu sein, sondern Riana, und dass diese Riana Gora kein braves Mädchen zu sein hat. Mit einer Kraft, die niemand in ihrem schlanken Körper vermuten kann, stößt sie das vordere Tor zum Hof auf und mit gleicher Kraft versieht sie ihre Worte, die sie selbst nicht in ihr vermutet hätte:
»Schön, Lenka, dann biegen wir mal wieder hart rechts zum Gehöft der Kalaukes ab. Okay?«
Das Licht des Tages macht das Gesicht der Alten noch fader, ihre Augen aber funkeln rötlich unterlaufen. Lenka Kalauke sieht plötzlich aus, als ringe sie nach Luft.
» Njedra« , schimpft sie mit den Armen fuchtelnd. » Mispagel!« hört Rita.. Aus dem Blick der Alten spricht auf einmal purer Hass und aus ihrem Mund kommen Worte, die Rita nicht versteht. Nur, dass sie über das Rot ihrer Haare wettert und dass es rot sei wie der leibhaftige Plon . Mit den Füßen stampfend und in abgetretenen Pantinen stolpert sie über den unebenen Hof, dreht sich vor dem Gartentor noch einmal um und hebt einen Arm, als wolle sie Rita mit ein paar fremdklingenden Worten drohen. Womöglich reimt Rita sich die Wortfetzen falsch zusammen, aber es klang so: So rotzige Leute hat es niemals nicht in Dorf gegeben ?
Sie wird sich noch wundern, die Alte. Rita geht zum Haus und lächelt vor sich hin. Immerhin war das ein guter Anfang. Einen energischeren Einstieg in ihr neues Leben konnte es gar nicht geben. Janina wäre vor Staunen erblasst..
Das Wort Mispagel allerdings - und das wird sie ein paar Wochen später erfahren - heißt soviel wie Miststück.
Eigentlich ist der Hof viel zu groß für eine Person, und die Hinterlassenschaften von Oma Frieda — die sich in den fünfzehn Jahren angehäuft hatten, seit Opa August Körber nicht mehr lebt — werden allein auch nicht zu bewältigen sein.
Dass trotz ihrer Tarnung Nils Hegau eines Tages bei ihr aufkreuzen könnte, schließt sie nicht aus, aber es wird nicht das größte Übel werden. Seit der Begegnung mit der Alten glaubt Rita, an sich selbst gewachsen zu sein — das heißt, an Riana Gora.
Wenn sie imstande war, die unschuldige Alte vom Hof zu weisen, kann sie Nils Hegau erst recht Paroli bieten. Nicht einmal eine handfeste Auseinandersetzung fürchtet sie noch. Zum Glück liegt das Grundstück am Rande der Dreihundert-Seelen-Gemeinde. Hier wird nicht gleich das halbe Dorf miterleben, wie sie ihre Probleme löst. Nur das Haus dieser Lenka Kalauke steht auf der anderen Seite ihrem Hof gegenüber, ehe sich die Straße in den Wald hinein bohrt. Die Wiesen rechts und links des Weges werden schon lange nicht mehr bewirtschaftet, so, wie hier fast nichts mehr bewirtschaftet wird, weil es keine echten Bauern mehr gibt. Das einstige Bauern-Dorf lebt beinahe nur noch vom Tourismus, und eigentlich wäre auch Riana Goras Haus groß genug, um im Obergeschoss zwei Ferienwohnungen einzurichten, aber dann wäre es mit ihrer lang ersehnten Freiheit und mit der Ruhe, deretwegen sie hier ist und die sie für ihren nächsten Roman dringend braucht, wieder vorbei. Der Hauptgrund ihrer Freude ist allein die Anonymität, die sie erhofft und warum sie ihren Künstlernamen an alle Türen geschrieben hat.
Noch vor ein paar Wochen war sie felsenfest davon überzeugt, sie sei den Schritt in eine neue Identität nur gegangen, weil sie sich in die Enge getrieben fühlte. Dieses Gefühl hat sie nicht mehr. Im Gegenteil. Tief in ihrem Inneren ist sie froh darüber. Alles um sie herum ist neu und aufregend. Sogar in ihrem Job hat sie es trefflich verstanden, den Vorteil des neuen Wohnortes auszunutzen. Wenn eine Gesellschaft Probleme hat, dann gibt es diese überall. Also kann sie auch im Spreewald den prekären Dingen mit ihrem unbestechlichen Gespür auf den Grund gehen. Und dafür ist Rita Georgi bei ihren Lesern und beim Verlag bereits bestens bekannt. Inzwischen ist es ihr sogar, als sei Rita Georgi ihr Pseudonym, wenn ihr Name unter den größeren Zeitungskolumnen erscheint. Bei kleineren Artikeln erscheint das Kürzel ri-go, das nur selten jemand mit ihrem Geburtsnamen verbindet.
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