Eldont'haneeva, Wolkenstadt des Zwergenclans der Hanevaa
Barbrot Himmelsherr schloss den vielfarbigen Overall mit der reichen Zierstickerei und griff nach der roten Schärpe mit den drei Quasten. Sehr sorgfältig legte er sie um seine Hüften und registrierte wieder einmal, dass diese an Umfang gewonnen hatten. Ein wenig missmutig ordnete er das Symbol seiner Würde, bevor er einen nachdenklichen Blick auf das Wandportrait des ersten Gründers der Stadt warf.
Mit einem langen Seufzer sah er sich in seiner Amtsrstube um. Trotz seiner Bedeutung war sie recht klein, was nicht der geringen Körpergröße des Zwergenvolkes geschuldet war, sondern dem Umstand, dass Raum ein sehr kostbares Gut in der Stadt war.
Bevor Barbrot durch die Vordertür auf den Versammlungsplatz hinaustrat, wollte er die seitliche benutzen, die auf einen Balkon hinausführte. Er tat dies an jedem Morgen, denn nur dort war er für sich. Dort konnte er seine Gedanken ordnen und sich auf sein Tagewerk vorbereiten.
Mit leisem Klicken öffnete sich das Schloss der sturmsicheren Tür. Als Barbrot sie aufdrückte, wurde er von einem kräftigen Windstoß empfangen. Instinktiv hielt er sich an dem geschmiedeten Handlauf fest und trat an den äußeren Rand des Balkons. Hier konnte er einen unvergleichlichen Ausblick genießen.
Über sich sah er den strahlend blauen Himmel. Keine einzige Wolke trübte die Aussicht. Ein paar Seevögel kreisten und verrieten die Nähe von festem Land. Rechts und links erstreckte sich die niedrige Außenwand der Stadt, über der sich die Gebäude erhoben, von denen einige über drei Stockwerke verfügten. Tief unter ihm glitt die See dahin. Barbrot Himmelsherr beruhigte der Anblick des tiefblauen Wassers und der sich, wenigstens im Augenblick, sanft bewegenden Wellen.
Es war ein Ausblick, wie ihn wohl nur eine fliegende Wolkenstadt des Zwergenvolkes bieten konnte. Ein Anblick, der den Stadtmeister gleichermaßen mit Stolz und mit Sorge erfüllte.
Am nördlichen Horizont erhob sich eine dunkle Kontur aus der See. Sie war groß und die Anwesenheit der Vögel verriet bereits, dass es sich um Land handeln musste. Land, welches möglicherweise bewohnt war. Vielleicht von Barbaren, vielleicht auch von einer hohen Zivilisation. Barbrot wusste es noch nicht. Niemand in der Stadt wusste es, denn Eldont'haneeva, die Wolkenstadt des Zwergenclans der Hanevaa, war noch nie in diesem Gebiet gewesen. Sicher gab es dort unten Neues zu entdecken und vielleicht konnte man einen guten Handel abschließen. Gab es dort streitbare Bewohner, so hatte die Stadt nichts zu befürchten. In zwei Tausendlängen Höhe über dem Boden befand sie sich in Sicherheit. Noch nie waren die Zwerge einem anderen Volk begegnet, welches sich, wie sie, in die Wolken erheben konnte.
Es gab nur eine Handvoll Wolkenstädte und jede von ihnen war ein Wunder aus Handwerkskunst, Erfindungsreichtum und Magie des jeweiligen Zwergenclans.
Eldont'haneeva erhob sich auf einer Plattform, deren Grundfläche eine mal drei Tausendlängen maß. Diese drei Millionen Quadratlängen boten Raum für fast 3.000 Zwerge und alles, was diese zum Leben benötigten.
Die Plattform war nur zwanzig Längen dick. Ihre Wände bestanden, wie alle Wände, Decken und Böden der Wolkenstadt, aus zwei dünnen Metallschichten, zwischen denen eine komplizierte Struktur aus Waben eingefügt war. Die findigen Zwerge hatten diese Bauart von Insekten übernommen.
Im Zentrum der Stadt erhob sich der große Turm des Sonnenkollektors. Er bestand aus einer Reihe von Kristallsäulen, die man zu einer einzigen großen zusammengefügt hatte. In ihr wurde jene Sonnenenergie gespeichert, die von zahlreichen polierten Schüsseln an den Flanken des Turms eingefangen und in die Kristalle geleitet wurde. Ein Teil dieser Energie gelangte über dünne Kabel in die Häuser, beheizte sie und betrieb Kochstellen und andere Geräte. Der Sonnenkollektor war groß genug, um ausreichend Energie für jene Zeit zu speichern, in der man das Sonnenlicht nicht direkt nutzen konnte, da schlechtes Wetter oder Nacht herrschten.
Über die Gebäude auf der Plattform war ein gewaltiges Netz gespannt, welches von unzähligen kräftigen Tauen und einer Vielzahl von hohen Säulen gehalten wurde. Dieses Netz hielt rund dreihundert riesige Heißluftballons. Zusätzliche Ballons waren unterhalb der Stadt angebracht und sorgten für weiteren Auftrieb. Justierbare Kristallschüsseln oder Kristallleitungen sorgten dafür, dass die Luft in ihrem Inneren ausreichend erhitzt wurde. Die Zufuhr an Lichtenergie war entscheidend dafür, ob die Stadt sank oder sich weiter in die Luft erhob.
An den oberen und unteren Ecken der Plattform waren massige Konstruktionen angebracht, mit deren Hilfe die großen Propeller angetrieben und gesteuert wurden, um die Flugrichtung der Stadt zu bestimmen.
Im Allgemeinen hielt sich eine Wolkenstadt in einer Flughöhe von zwei bis maximal drei Tausendlängen auf. Längst hatte sich das Volk der Zwerge den Bedingungen angepasst und war den etwas geringeren Luftdruck gewöhnt. So hatten sich ihre Lungen und Brustkörbe ein wenig vergrößert. Sie betraten den festen Boden einer Landmasse ohnehin nur ungern und selten, denn der Aufenthalt in den Wolken schützte vor gefährlichen Tieren und anderen Feinden. Die Bewohner der Wolkenstadt waren Händler, Entdecker und friedliche Wesen, auch wenn sie sich durchaus zu verteidigen wussten.
Die Fähigkeit der Kristalle, Lichtenergie zu speichern, wurde vom Wolkenvolk auch als Waffe genutzt. Die grellen Todesblitze ihrer Sonnenwaffen waren beim Feind ebenso gefürchtet wie die scharfen Schneiden ihrer Kampfäxte.
Luftschiffe mit starrer Hülle transportierten Waren. Kleine Flügelschwingen streiften eifrig um die Wolkenstadt, um sie vor ihrem wohl einzigen Feind zu schützen: den großen Scharfschnäbeln, die stets in Scharen auftraten und welche nicht nur die Hüllen eines Ballons zerfetzen, sondern auch die dünnen Wände der Plattform oder Häuser beschädigen konnten.
In den zwei- bis dreistöckigen Gebäuden der Stadt lebten nicht nur ihre rund 3.000 Bewohner. Dort waren auch jene Werkzeuge und Maschinen untergebracht, die das Wolkenvolk benötigte. Sorgfältig gehegte Beete, auf denen man Pilze und andere Nutzpflanzen zog, gehörten zur Lebensgrundlage. Das meiste Trinkwasser wurde bei Regen in Behältern gesammelt, welche den größten Anteil am Gewicht der Stadt ausmachten, denn die Zwerge waren ein durstiges und reinliches Volk. Gab es nicht ausreichend Regen, so machten sich die großen Luftschiffe auf den Weg, um das notwendige Wasser zu holen.
Barbrot Himmelsherr trat an jenen Teil der Brüstung, an der das doppelte Langauge angebracht war. Die schwenkbare Konstruktion bestand aus zwei Teleskopen, die einen bestimmten Abstand zueinander aufwiesen und exakt justiert werden konnten. Blickte man durch ihre Okulare und stellte die Objektive scharf, so konnte man mit ihnen die Entfernung zu jenem Objekt bestimmen, welches man gerade betrachtete.
Der Stadtmeister begnügte sich im Augenblick jedoch mit einem kurzen Blick auf die Landmasse am fernen Horizont. Die Vergrößerung zeigte einen langen Küstenstreifen, dichten Bewuchs und hohe Berge. Möglicherweise war dies nicht nur eine große Insel, sondern ein Kontinent. Obwohl die Wolkenstädte schon so lange durch den Himmel flogen, war längst nicht jedes Stück Land bekannt. Es gab immer wieder Unbekanntes zu entdecken. Jede Wolkenstadt war dann bestrebt, das Neue zu erkunden und in seine Karten einzutragen. Diese Karten bildeten ein wertvolles Handelsgut, denn sie waren begehrt bei jenen, die von den Zwergen als „Bodenbedecker“ bezeichnet wurden.
Barbrot vernahm ein lautes Pochen an der Sturmtür und wandte sich halb um. „Du bist mir willkommen. Tritt ein.“
Augenblicke später trat Benara Klughand an seine Seite. Die Handelsmeisterin trug einen grünen Overall, eine Weste mit üppiger Zierstickerei und, als Zeichen ihres Amtes, eine rote Schärpe mit zwei Quasten. Ihre für das Zwergenvolk so typischen roten Haare schimmerten im Sonnenlicht, während sich das von Barbrot, auf Grund des hohen Alters beinahe schwarz gefärbt hatte.
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