Drück mir die Daumen, dass ich nicht mehr allzu lange warten muss!
Küsse, Lory
Gerade, als ich die letzten Worte der SMS schrieb, fuhr ein Auto vor. Ich sah nicht von meinem Handy auf, sondern schickte erst die Nachricht ab, doch ich hörte, wie eine Autotür zugeschlagen wurde und dann etwas zögernde Schritte auf mich zu kommen.
„Hi“, sagte eine warme Stimme. Ich sah auf und blickte direkt einem groß gewachsenen, braun gebrannten Jungen ins Gesicht. Ich schätzte ihn auf vielleicht zwanzig Jahre, also um genau zu sein, kein richtiger Junge mehr...
Er trug ein lockeres, weißes T-Shirt und eine kurze, abgenutzte Hose. Sein Haar war dunkelbraun und wuschelig, und seine Augen hatten die Farbe von Kastanien.
„Bist du Lory?“, fragte er mich und machte noch einen zaghaften Schritt auf mich zu.
Ich nickte nur und betete, dass es sich bei ihm um meine Mitfahrgelegenheit handelte.
„Hi“, sagte er nochmal und streckte mir seine Hand entgegen.
„Ich bin Noah. Deine Tante Maddie hat mich geschickt, um dich abzuholen. Sie hat einen Rohrbruch in der neuen Pension und kann deswegen nicht kommen…“
„Ich weiß“, sagte ich und lächelte.
Ich kam mir ziemlich blöd dabei vor, hier so rum zu sitzen und ihn anzustarren, aber aus irgendeinem Grund konnte ich nicht anders.
„Also dann, wollen wir los?“, fragte ich und gab mir große Mühe, irgendwie lässig zu klingen. Normalerweise gelang mir so etwas nicht besonders gut, wenn ich ehrlich bin, aber dieses Mal schien es ausnahmsweise einmal geklappt zu haben.
„Ähm, klar. Lass mich das nehmen“, sagte er und griff nach meinem Koffer und meiner Sporttasche. Langsam lief ich hinter ihm her zum Auto und musterte seinen Rücken und die trainierten Arme. Es schien kein Problem für ihn zu sein, die schweren Sachen zu tragen, ganz im Gegensatz zu mir.
Am Auto angekommen, klappte er die Kofferraumtür auf und verstaute meine Sachen darin. Dann ging er zur Beifahrerseite und hielt mir die Tür auf.
Ich wurde rot. Er hielt mir die Tür auf! Was war das denn bitte für ein Gentleman?
Verlegen huschte ich in den Wagen und setzte mich auf den Beifahrersitz.
Ich schnallte mich an und band mir schnell meinen Zopf neu, einfach bloß deswegen, weil ich nicht wusste, was ich mit meinen Händen machen sollte.
Lässig ließ Noah sich neben mir hinter das Steuer fallen und schaltete den Motor an.
Gekonnt lenkte er das Auto aus der Parklücke, die mit Sträuchern umrahmt war. Ich hätte Angst gehabt, dass die Äste das Auto verkratzen könnten, aber Noah schien sich darüber nicht im geringsten Sorgen zu machen.
Er fuhr vom Bahnhofsgelände herunter und lenkte dann auf eine Schnellstraße. Ich versuchte mich auf den Weg zu konzentrieren, um mich während der drei Monate, die ich hier verbringen würde, wenigsten einigermaßen zurecht finden zu können. Doch ich war zu nervös.
„Ist das dein Wagen?“, fragte ich schließlich, als die Stille mir zu unerträglich wurde. „Nein. Das ist das Auto von Maddie. Ich arbeite ab und zu für sie und dann kann ich den Wagen benutzen. Um Einkaufen zu fahren zum Beispiel.“
„Echt, du arbeitest für sie? Ich wusste gar nicht, dass… naja… Ich wusste gar nichts davon.“
Noah lachte.
„Ich mache das auch noch nicht so lange. Außerdem habe ich im Moment so wie so nicht so viel zu tun, da die meisten handwerklichen Arbeiten am Haus schon erledigt sind, die ich machen konnte und jetzt die Elektrik angeschlossen wird, von der ich ehrlich gesagt keine Ahnung habe. Wenn es dann in die Möbelaufbauphase geht, werde ich aber wahrscheinlich wieder öfter da sein.“ Er lächelte mich freundlich an und ich lächelte zurück.
Dann schwiegen wir wieder eine Weile. Ich sah aus dem Fenster und sah mir die wunderschöne Landschaft an und schaute im Wechsel dazu immer wieder auf die Uhr. Es kam mir so vor, als wären wir bereits eine halbe Ewigkeit unterwegs, dabei waren wir gerade einmal zehn Minuten gefahren.
„Und du bist Mad’s einzige Nichte?“, fragte er mich schließlich.
Ich war etwas erstaunt, weil ich bisher immer gedacht hatte, dass ich die einzige Person wäre, die Maddie den Spitznamen Mad gab, doch offenbar hatte ich mich geirrt. Ich wusste nicht wieso, aber aus irgendeinem Grund machte mir das etwas aus.
„Ja“, antwortete ich und bemerkte den verwirrten Ton in meiner Stimme.
Jetzt kam ich mir dumm vor. Hoffentlich hatte er es nicht bemerkt.
„Sie ist die Schwester meiner Mutter“, sagte ich daher noch schnell und hoffte, dass es ihm nicht aufgefallen war.
Noah nickte und bog ab.
„Wir sind gleich da“, verkündete er und ich atmete innerlich auf.
Ich mochte ihn zwar, er war wirklich nett, aber ich tat mich immer ein bisschen schwer mit neuen Bekanntschaften und es machte mich nervös, unter fremden Leuten zu sein. Ich bevorzugte die Gesellschaft von meiner Familie oder von vertrauten Freunden, dort fühlte ich mich einfach wohler.
Wir fuhren eine alte Baumallee entlang, die direkt zu einem großen alten Haus führte.
Als ich das Haus zum ersten Mal sah, lief mir ein Schauer über den Rücken, so eindrucksvoll wirkte es auch mich.
Die Pension sah von außen aus, wie eine große, alte Villa.
Vermutlich war sie auch eine. Ein großes und sehr altes Gebäude, in einem schönen
Sandton gestrichen und hier und da mit Efeuranken bewachsen. Auf der oberen Etage, direkt über der großen, hölzernen Eingangstür, befand sich ein kleiner Balkon, auf den man durch eine zweiflüglige Tür gelangte, die aus dem gleichen Holz gemacht worden war, wie die Eingangstür, nur dass die Balkontür hauptsächlich aus Glasfenstern bestand. Der halbmondförmige Parkplatz vor der Villa war mit hellem, sandfarbenen Kies aufgeschüttet und links und rechts davon wuchsen hohe, alte Bäume mit wunderschönen dunkelgrünen Baumkronen.
„Wow“, hauchte ich andächtig und blickte auf das Haus.
„Es ist echt schön, oder?“, fragte Noah und parkte den Wagen auf dem Parkplatz.
„Es ist traumhaft. Wie in einem Märchen!“ Als ich begriff, wie bescheuert sich das gerade angehört hatte, wurde ich wieder rot.
Ich sollte mir wirklich besser zuhören, wenn ich redete.
Aber Noah schien es nicht gestört zu haben, oder wenn doch, ließ er sich netterweise nichts anmerken.
„Ich meine, es ist sehr eindrucksvoll“, fügte ich sicherheitshalber hinzu und wartete auf eine Antwort. Doch statt etwas zu erwidern, lächelte Noah mich nur an, mit einem Ausdruck im Gesicht, den ich als Belustigung deutete, und schnallte sich ab.
„Komm, lass uns aussteigen“, sagte er und öffnete die Autotür.
Ich ging zum Kofferraum und nahm meine Sporttasche heraus.
Meinen Koffer wollte Noah unbedingt selbst tragen.
Wir gingen quer über den kleinen Parkplatz und steuerten auf ein kleines Haus zu, das so versteckt hinter einer Reihe von Bäumen lag, dass ich es bis gerade eben gar nicht bemerkt hatte. Es war deutlich kleiner als die Villa, aber trotzdem wunderschön. Es hatte dieselbe Farbe wie die Pension und war durch einen kleinen, von Wildblumen bewachsenen Vorgarten gesäumt.
Noah stellte den Koffer neben der Haustür ab und ging dann zu einem der vielen kleineren Bäumen neben dem Haus. Er steuerte auf den vordersten Baum zu, an dem ein kleines, hübsches Vogelhaus hing und griff hinein.
Triumphierend kam er wieder zurück, einen Schlüssel in der Hand. Anerkennend nickte ich.
„Kein schlechtes Versteck“, gab ich zu und lachte.
„Das war meine Idee“, verkündete Noah stolz und grinste verschmitzt.
Er schloss die Tür auf und zog meinen Koffer aus dem Weg.
„Bitte nach Ihnen“, sagte er und machte eine übertriebene Verbeugung, bei der er in das Haus wies.
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