Sofort wurden Baupläne diskutiert und Prioritäten gesetzt. Vier Eismondozeane standen zur Verfügung. Raumbasen ließen sich auf unzählige Planetoiden konstruieren, und dem roten Planeten. Sariah aber war und blieb der erhoffte Zwilling Puntirjans: Eine friedliche, zivilisierte Welt, umkreist von einem großen Mond. Ein neues Zuhause.
Leonid Alexejewitsch Kulik war ein echter Russe. Er kannte die Kälte. Er hatte sie im russisch-japanischen Krieg kennengelernt – auch die volle Härte der Gewalt. Endlich war sein Dienst in der russischen Armee beendet. Er wollte Abstand gewinnen von all den Kriegserlebnissen, und er wollte den Abstand radikal. Er hatte sogar schon einmal daran gedacht, sich den Revolutionären anzuschließen, von deren Aktivitäten er über ehemalige Studienkollegen gehört hatte. Aber er scheute davor zurück. So wurde er Ausbilder für Mineralogie in Tomsk.
Vladimir Komarow, sein Gönner und ehemals Generalinspekteur, war inzwischen frühpensioniert und nebenbei zum Fellhändler geworden. Er bereiste Sibirien mit der Transsibirischen Eisenbahn, kaufte als wohlhabender Pensionär Felle der Jäger und Nomaden auf und verkaufte sie in Moskau an die feinere Gesellschaft. Eigentlich wollte er in jenem Jahr 1908 sein Handelshaus in Moskau errichten, doch dann trat er doch noch seine Handelsreise an in die sibirische Taiga an, um sein Lager aufzufüllen.
Vladimir machte sich also auf den Weg in die Taiga. Oleg Okalakulak, sein Handelspartner im Gouvernement Jenissejsk hatte ihm geschrieben, er habe einige Hundert Felle von den nomadischen Jägern der Ewenken erworben – eine Riesenchance!
Es war der 30. Juni des Jahres 1908. Schleppend langsam näherte sich der Zug der Podkamennaja Tunguska im Siedlungsgebiet der Ewenken im Gouvernement Jenissejsk. Noch etwa fünfhundert Kilometer, und er würde die Station erreichen, die Handelssiedlung Wanawara, an der Oleg ihn in Empfang nehmen würde – wie immer mit frisch gebranntem Wodka.
Vladimir hatte sich gerade vom Schlafwagen in den Speisewagen begeben. Müde sah er in den Morgenhimmel. Plötzlich blendete ihn ein heller Feuerschein über den Wipfeln der Bäume. Er erfasste den gesamten Himmel, hell wie ein Blitzlicht. Die Transsibirische Eisenbahn schien aus den Gleisen geschüttelt zu werden. Eine Druckwelle raste über die Baumwipfel. Vladimir hörte mehrere Male ein lautes Donnergrollen. Bäume knickten um. Der Zug vollführte eine Notbremsung.
„Was war das?“, fragte Vladimir.
„Ich weiß es nicht? Ein Donner? Eine Bombe?“ sagte ein älterer Mann gegenüber, als er sich vom Boden erhob.
Neben ihm erhob sich ein altes Bäuerchen.
„Gott zürnt unserem Volk!“, sagte er, „Wir sollten den Zaren als Herrscher von Gottes Gnaden akzeptieren!“
„Schweig still, Pavel!“, herrschte ihn eine Frau neben ihm an – oder war es seine Tochter? „Siehst Du nicht? Der feine Herr hat den Eisenbahnschaffner eine Frage gestellt – nicht dir!“
Der Schaffner der transsibirischen Eisenbahn stierte ratlos ins Leere. Es war unklar, ob er bei der Notbremsung auf den Kopf gefallen war oder ob es der Wodka war, den er vor der Notbremsung zu sich genommen hatte. Er starrte kreidebleich aus dem Fenster, in die Weiten der Taiga.
„Heiliger Johannes Chrysostomos! So etwas habe ich noch nie gesehen!“, murmelte er plötzlich in seinen Bart. Dann rappelte er sich auf, verließ das Abteil und kämpfte sich zur Lokomotive durch. Er wollte den Lokomotivführer fragen, ob er die Notbremse lösen und den Zug wieder in Gang bringen könnte.
Eine Viertelstunde später fuhren sie wieder, und als sie an Wanawara ankamen, staunten sie nicht schlecht. Dutzende Fenster und Türen waren eingedrückt, Bäume umgeknickt, und alle Reisenden der transsibirischen Eisenbahn hatten den Feuerschein bemerkt, das Donnergeräusch und die Druckwelle – egal aus welcher Himmelsrichtung sie herbeigereist waren, selbst in einer Entfernung von über 500 Kilometern. Überall in der Tunguska. Später hieß es, in einem Gebiet von über 2000 km² seien rund 60 Millionen Bäume umgeworfen worden. In dem ukrainischen Dorf Kargalyk in der Umgebung von Kiew, so hörte Vladimir später, sei zwar ein Meteoritenfall beobachtet worden – doch das in der Tunguska konnte kein Meteorit gewesen sein. Und auch ein Vulkankrater in der Tunguska wurde niemals entdeckt.
Auch in den Anden ging an diesem Tag ein Meteorit nieder. Einige Eingeborene sahen ihn vom Himmel fallen. Es war ein Bruchstück, das sich vom Kometen abgetrennt hatte. Es war nicht in der Tunguska niedergegangen – es war Richtung Südamerika getorkelt. Es enthielt einen kleinen, außerirdischen Sender. Er überstand die harte Landung. Er aktivierte sich noch kurz, gab ein Funksignal ab und ging dann auf stand-by-Betrieb. Seine Zeit war noch nicht gekommen.
„Finden sie das komisch, Kapitän?“
General Fazzuwärs Augen glühten. Er sah Kapitän Jenis scharf an. Der General plusterte sich auf und gab ein verwundertes Krächzen von sich. Jenis blieb kühl.
„Ich wollte damit nur sagen, General, dass mich ihr Besuch auf der Altakolia I überrascht. Natürlich sind sie willkommen!“
General Fazzuwär beruhigte sich. Er hatte der Altakolia I einen Freundschaftsbesuch abgestattet. Spontan, wie er sagte. Nun war er hier. Die Strecke von der Altakolia VII zum Flaggschiff von Kapitän Jenis hatte er in nur wenigen Puntirjanhours zurückgelegt, dank Jähn-Mu, seinem Shuttlepilot. Jähn-Mu war damals als Orbital-Pionier der zweiten Generation zum Altakolia-Team gestoßen. Er war noch immer recht jung, und er war der Enkel von Golmu, dem letzten Opfer der imperialen, sarkarischen Diktatur. Golmu hatte dem sarkarischen Kaiser im Krieg die Stirn geboten, bevor Jenis‘ Einsatzkommando von der IPO den Diktator gestürzt hatte. Und Golmu hatte dafür mit seinem Leben bezahlt. Fazzuwär hatte Jähn-Mu mit auf die Altakolia VII genommen, um seine neue, demokratische Gesinnung zu demonstrieren, doch dass Jähn-Mu auf der Altakolia VII daraufhin ein hohes Ansehen genoss, nur weil sein Großvater Golmu ein Märtyrer der sarkarischen IPO-Demokraten war, passte ihm überhaupt nicht.
Jenis ahnte das, als er sich Fazzuwärs Shuttlepiloten zuwandte.
„Auch ihnen ein herzliches Willkommen an Bord, Jähn-Mu!“
„Danke, Kapitän!“, antwortete dieser erfreut.
Der General plusterte sein Gefieder wieder auf. Eiskalte Wut blitzte aus seinen Augen auf. Entschlossen wandte er sich der Rampe zu, an der das Fahrzeug stand, das sie zum Triebwerksblock bringen sollte.
„Ich möchte das Antimaterie-Triebwerk besichtigen, Kapitän.“, rief er. „Das Unsere macht uns auf der Altakolia VII Probleme mit den Injektoren. Ihres scheint den Dauerbetrieb ja noch immer unverändert gut zu überstehen, trotz des auf halber Strecke geleisteten Schubumkehrs.“
„Es läuft ausgezeichnet, General, auch wenn wir nicht ihre Militärversion besitzen!“
Das Fahrzeug surrte. Der General schmollte über Jenis‘ Stich. Er schwieg. Jähn-Mu grinste kurz. Jenis, Jähn-Mu und der General befanden sich schon auf dem Weg zum Triebwerksblock. Schließlich erreichte ihr Fahrzeug das Ende des langen Tunnels und kam am Schleusentor zu stehen, welches den Weg durch die Strahlenabschirmung am Triebwerksblock öffnete. Dahinter ging es zu den Reaktoren. Fazzuwär und sein Pilot standen auf und flogen zum Schleusentor.
„Pilot Jähn-Mu, würden sie Kapitän Jenis bitten, ihnen die Sicherheitseinrichtungen für die Triebwerkstechniker zu zeigen? Sie wissen doch, dass unsere Strahlenschutztüren immer wieder haken.“
„Jawohl, General!“, antwortete der Pilot eifrig und wandte sich Kapitän Jenis zu, der das Schleusentor soeben erreichte.
„Ich bin derweil bei den Triebwerksdüsen!“, rief der General und entfernte sich mit einigen, kräftigen Flügelschlägen.
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