– „Sprich weiter, ich widerspreche dir nicht.“
– „Ach nein? Okay, dann lass mich dich was fragen: Isst du Fleisch, heiliger Mann? Tja, ich dachte, die Bibel sagt ‚Du sollst nicht töten‘? Ganz einfach. Ich hab’s nachgelesen. Da steht nicht ‚Du sollst keine Menschen töten‘, da steht ‚Du sollst nicht töten‘. Wie passt das zusammen?“
– „Hörst du mich dir widersprechen? Du hast ganz schön viel zu einem Thema zu sagen, das dich nicht interessiert. Und, um deine Frage zu beantworten: Nein, ich esse kein Fleisch. Ich esse allgemein nicht sehr viel.“
– „Ernsthaft? Na dann gratuliere ich. Damit bist du offiziell der Erste. Und innerhalb der Predigerszene Teil einer Minderheit.“
– „Jede Mehrheit war mal eine Minderheit. Und jede Minderheit war mal eine Mehrheit. Das ist der Lauf der Dinge.“
– „Ja, mag sein. Ich bin stinksauer. Auch stinksauer auf all die Idioten, die ständig fromm sind und in die Kirche rennen und sonst nichts tun. Weil sie ja ‚glauben‘. Weißt du was, Reverend? Ich scheiß auf Glauben. Ich stehe auf Handeln. Mir ist einer tausendmal lieber, der an nichts glaubt, aber dafür was tut. Und zu tun gibt es eine Menge, schau dich nur um. Und du bist ja ein gutes Beispiel. Du sitzt hier in der Bar vom Holiday Inn und redest schlau daher, anstatt dass du draußen den Hungrigen was zu essen gibst und den Armen was anzuziehen gibst und was Männer des Glaubens sonst so machen. Verstanden?“
– „Aber missionieren ist auch wichtig, das Wort in die Welt tragen.“
– „Scheiß auf das Wort. Die Tat ist, was zählt. Reden kann jeder.“
Isaah Cunningham nickte nur. Nach einer wortlosen Sekunde sagte er:
– „Weise Worte. Wie kann jemand, der so viel Weisheit in sich trägt, so verzweifelt sein?“
– „Ich bin nicht verzweifelt, ich bin angepisst.“
– „Du weißt, dass es nicht zu spät ist, oder?“
– „Doch, für mich ist es zu spät. Definitiv. Aber das ist mir scheißegal. Ich werde nicht hirnlos der breiten Masse hinterherlaufen, komme, was wolle.“
– „Es ist nie zu spät, vorausgesetzt, man will es so.“
– „Doch, doch, heiliger Mann, für mich ist es zu spät. Ich habe eine Scheiß-Wagenladung voll von Sünde auf mich geladen.“
– „Ja, ich weiß.“
– „Ach, das weißt du, ja?“
– „Ich weiß so manche Dinge.“
– „Na, von mir aus. Ich für meinen Teil bin hier fertig. Barmann, meine Rechnung bitte.“
– „Suche nach Schönheit, Bruder. Sonst wirst du noch verrückt. Suche sie und du wirst sie finden. Schönheit ist überall um dich herum, man muss nur hinschauen. In der Schönheit findest du Gott. Es ist nicht zu spät. Glaube mir, Kissinger.“
– „Woher kennst du …?“
– „Ich weiß so einiges. Wir sehen uns vielleicht wieder“, sagte der Prediger im Hinausgehen. Kissinger wollte noch etwas erwidern, doch Isaah Cunningham war schon weg.
Das Leben in der Zelle hatte seinen Tribut gefordert, genau so, wie die Behörden es geplant hatten. Sie wollten Kissinger mürbe machen und es funktionierte immer besser. Er war schrecklich müde, vielleicht verabreichten sie ihm irgendwelche Drogen, irgendetwas in ihm war dabei nachzugeben. Das allerdings konnte Kissinger das nicht zulassen, nicht nach der Begegnung der vorigen Nacht, er musste schlagartig wach werden. Alarmierende Neuigkeiten.
Ein Mithäftling war urplötzlich bei ihm in der Zelle aufgetaucht, um Kissinger eine Nachricht zu überbringen. Es gab Neuigkeiten von Rico. Wie das auf einmal möglich war, nachdem man ihn wochenlang hermetisch abgeschirmt hatte, konnte Kissinger nur erahnen. Anscheinend war Riceman nicht untätig gewesen und hatte aller Widrigkeiten zum Trotz seinen Aufenthaltsort in Erfahrung bringen können. Und es dann so einrichten können, dass er wenigstens indirekt mit Kissinger in Verbindung treten konnte. Ein tüchtiger Anwalt war für jemanden wie Kissinger Gold wert. Riceman hatte korrekt eingeschätzt, wie wichtig es für Kissinger war, über Ricos Zustand Bescheid zu wissen.
Die Zeit des Wartens war vorbei, Kissinger musste agieren und die Apathie überwinden. Er hatte keine Wahl, er musste die letzten Register ziehen, Kissinger brauchte die Stärke der sieben Kreise.
Der Verbotenen sieben Kreise.
Er kannte die Routine.
Er hatte sich ein Brett besorgt.
Er zog sein Unterhemd aus, machte einen Knoten hinein und wickelte es um das Brett.
Jetzt war äußerste Konzentration gefragt.
Kissinger musste die Lethargie besiegen.
Das Ziel war, die Monotonie zu durchbrechen.
Der Weg waren die sieben Kreise.
Sieben Kreise bedeuteten sieben Schläge.
Den Schmerz überwinden und das Ego überwinden.
Kissinger klemmte das mit dem Unterhemd umwickelte Brett in Schulterhöhe hinter seine Pritsche. Die Wachen hatten ihren letzten Rundgang gerade beendet, der Trakt war ruhig und stockdunkel. Mondlicht schien durch das vergitterte Fenster. Kissinger stellte sich leicht breitbeinig mit einer Armlänge Abstand vor das Brett.
Er holt tief Luft und schließt die Augen.
Alles wird schwarz.
Er ballt die rechte Hand zur Faust.
Während er zum Schlag ansetzt, atmet er aus.
SCHLAG EINS. Umarme den Schmerz.
Ein dumpfes Krachen.
Nicht fest genug.
Feigling.
Innegehalten.
Unbewusst abgebremst.
Nicht auf das Brett schlagen, durch das Brett hindurchschlagen.
Ausatmen.
Mitte finden.
SCHLAG ZWEI. Umarme den Schmerz.
Wumms.
Der Knöchel kracht gegen das Brett.
Gleißender Schmerz.
Besser.
Einatmen.
Ausatmen.
Kissinger legt seinen Körper in den nächsten Schlag.
Mehr Gas.
SCHLAG DREI. Umarme den Schmerz.
Die Faust kracht gegen das Brett.
Der Knöchel platzt.
Der Schmerz pustet die Rohre durch.
Kissinger lächelt.
Er erhöht den Rhythmus.
SCHLAG VIER. Umarme den Schmerz.
Kissinger legt seinen Oberkörper in Schlaghaltung.
Volles Rohr.
Die Faust blutet.
Er wechselt die Hand.
Jetzt mit links.
SCHLAG FÜNF. Umarme den Schmerz.
Er wartet nicht mehr.
Schwingt vorwärts, schlägt mit voller Wucht gegen das Brett. Mehr Schmerz. Noch stärker.
Noch klarer.
Die Müdigkeit ist verflogen.
Welche Müdigkeit?
Kissinger grinst.
Zieht die Linke nochmals zurück.
Fixiert das Brett, das Unterhemd hat rote Flecken.
Holt tief Luft.
SCHLAG SECHS. Umarme den Schmerz.
Die Linke fliegt mit voller Wucht auf das Brett zu.
Kissinger stößt einen markerschütternden, tiefen Schrei aus.
Die Faust trifft auf das Brett.
Der Schmerz kulminiert.
Seine linke Hand ist taub.
Beide Hände bluten, die Haut hängt in Fetzen in Höhe der Knöchel herunter.
Für den finalen Schlag wählt er noch mal die Rechte.
Die Sinne schärfen sich.
Geht einen Schritt zurück.
Nimmt Anlauf, atmet schwer.
SCHLAG SIEBEN. UMARME DEN SCHMERZ!
LIBERTAS IN DOLOREM!
Die Faust kracht ein letztes Mal gegen das Brett.
Kissinger schwitzt und atmet schwer. Lächelnd zerreißt er das blutverschmierte Unterhemd und verbindet sich die blutigen Knöchel.
Verhör, die Dritte.
Sie brachten Kissinger wieder in den gleichen Raum, wieder würde er warten müssen, dass etwas passierte. Agent Smith war bereits da.
– „Guten Morgen, Mr. de Luca. Herrgott, was ist denn mit dem passiert?“, fragte Smith in Richtung der Wachen, die Kissinger hereingeführt hatten. Die zuckten mit den Schultern.
– „Der Gefangene hat letzte Nacht versucht, sich zu verletzen, Sir.“
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