Es war bitterkalt im englischen Herbst, eine Wärmestube gab es nicht, für ein Hotelzimmer fehlte das Geld. Der Bahnsteig war zwar überdacht, aber an den Seiten offen. Die Kälte zog unerbittlich durch den Bahnhof, der Blick auf die Uhr verhieß endlose Stunden bis zum ersten Zug am Morgen. Und doch hatte es sich gelohnt. Irgendwann, es war noch dunkel, öffnete das Taxifahrercafé im Bahnhof. Es hatte eine ganze Weile gedauert, bis man sie hineinließ, Kissingers ganze Überzeugungskraft war an diesem Punkt vonnöten gewesen. Die Taxifahrer in Bristol waren ein stolzes und stures Volk und offiziell hatten nur Taxifahrer Zugang zum Café mitten in der Sperrstunde. Der Tee, den sie dann letztendlich doch zu trinken bekamen, schmeckte spektakulär.
To the power. And the glory …
Essen konnten sie nichts, obwohl sie hungrig waren und man ihnen freundlich etwas angeboten hatte. Um vor Sonnenaufgang Blutwurst verdauen zu können, musste man wahrscheinlich Engländer sein.
20 Er sprach aber: Was aus dem Menschen herauskommt, das verunreinigt den Menschen.
Dass Kissinger jetzt ausgerechnet hier gelandet war, konnte kein Zufall sein. Und dass er nicht telefonieren durfte, obwohl es ihm von Rechts wegen her zugestanden hätte, war eine weitere deutliche Nachricht.
Ich bin nicht dieses Hemd.
Ein Anruf hätte genügt, Riceman hätte gewusst, was zu tun gewesen wäre. Der Anwalt hätte einfach eine Verlegung in einen anderen Bundesstaat veranlasst, in dem es keine Todesstrafe gab. Damit hätte Riceman genug Zeit geschunden, um ihn rauszuholen. Jetzt aber standen die Sterne schlecht.
21 Denn von innen, aus dem Herzen des Menschen, kommen die bösen Gedanken hervor, Ehebruch, Unzucht, Mord.
Kissinger versuchte sich vorzustellen, wie sein Leben verlaufen wäre, wenn er damals nicht mit Dr. X ins Gespräch gekommen wäre – in jener Nacht, in dieser Bar. Dr. X war in Wirklichkeit gar kein Doktor, Kissinger nannte ihn nur in seiner Vorstellung so. Nach dem Bösewicht in Operation Mindcrime. Dr. X hatte ganz offensichtlich etwas in ihm gesehen, ein Potenzial, das er als förderungswürdig erachtet hatte. Hätte es diese Begegnung nie gegeben, wäre Kissinger vielleicht sesshaft geworden, hätte einen legalen Beruf ergriffen, hätte geheiratet und ein normales Familienleben irgendwo in der Vorstadt gelebt.
Eine unwahrscheinliche Vision. Kissinger hatte sich in der Gesellschaft meistens als Außenseiter, als Beobachter gefühlt. Die Theorie des Multiversums besagt, dass es nicht nur eine Realität gibt, sondern dass viele fast identische Versionen der Realität nebeneinander existieren, die sich nur in Details voneinander unterscheiden, je nachdem, welche Entscheidungen man im Laufe der Zeit getroffen hat.
Folgte man also dieser Theorie, existierte vielleicht irgendwo diese bürgerliche Alternativversion Kissingers. In einem Paralleluniversum oder einer alternativen Realität hätte das möglich sein können. Das half ihm allerdings jetzt nicht weiter.
Denn in DIESER Realität hatte er Probleme.
Kissinger sah den Dingen ins Auge. Er war so schuldig, wie man nur sein konnte, er würde brennen. Erst auf dem Stuhl. Dann in der Hölle. Oder sonst wo. Die Frage war, wie viel sie wussten. Und woher.
22 Diebstahl, Geiz, Bosheit, Betrug, Zügellosigkeit, Neid, Lästerung, Hochmut, Unvernunft.
Kissinger hatte sein Tun immer damit gerechtfertigt, dass er prinzipiell nur Leute tötete, die es verdienten. Das war reiner Selbstbetrug, denn seine Auftraggeber waren genau die gleichen Drecksäcke wie seine Opfer. Was ihn bis dato gerettet hatte – und was ihm Respekt von allen Seiten eingebracht hatte –, war sein Kodex.
Vor jedem neuen Auftrag prüfte Kissinger die Sachlage dahingehend, ob der Hit mit seinen Prinzipien vereinbar sei. Keine Kinder, keine Frauen, keine politisch motivierten Aufträge, keine Eifersuchts- oder sonstigen emotionalen Racheszenarien.
Der Glaube an seinen Kodex ging so weit, dass Kissinger tatsächlich einmal einen Auftrag pro bono übernommen hatte. Die Tochter eines einschlägig bekannten italo-amerikanischen ‚Geschäftsmannes‘ war entführt und ermordet worden. Man hatte den Täter gefasst und angeklagt (ihm wurden noch sechs weitere Morde an Kindern zur Last gelegt). Aus formalen Gründen musste die Anklage fallen gelassen werden und der Täter kam trotz einer erdrückenden Beweislast auf freien Fuß. Beim Verlassen des Gerichts war der Mörder an der Frau des Geschäftsmannes vorbeigekommen und hatte ihr im Vorbeigehen ins Ohr geraunt: „Und dich ficke ich als Nächstes, du Schlampe.“ Dann hatte er gelacht. Die Frau erlitt daraufhin im Gang einen Schwächeanfall.
Der Geschäftsmann hatte den Fall Kissinger vorgetragen. Während der Suche nach seiner Tochter und während der Gerichtsverhandlung waren seine Geschäfte schlecht gelaufen, sodass der Geschäftsmann gezwungen war, Kissinger die Bezahlung seines Honorars auf Raten anzubieten. Kissinger hörte sich die Details genau an und übernahm daraufhin den Auftrag ohne Bezahlung, nicht einmal die Auslagen ließ er sich erstatten.
Er tat das nicht aus Berechnung, sondern aus Überzeugung, und seine von allen Seiten als edel betrachtete Tat machte die Runde, auch aufseiten der Behörden. Selbst die Presse hatte unverhohlen ihre Freude über das unfreiwillige Ableben des Kindermörders zum Ausdruck gebracht. Seit dieser Zeit gab es eine Art unausgesprochene Vereinbarung zwischen der Polizei und Kissinger. Er konnte tun, was er tat, und die Polizei sah – solange keine Unschuldigen zu Schaden kamen – nicht so genau hin.
23 All dieses Böse kommt von innen heraus und verunreinigt den Menschen.
Bei Licht betrachtet war der Kodex natürlich Augenwischerei, eine Methode, die sein Geist sich zurechtgelegt hatte, um sein Tun vor sich selbst rechtfertigen zu können. Hin und wieder war es bei der Erledigung seiner Aufträge durchaus zu Kollateralschäden gekommen.
Einmal hatte er mit einer ferngezündeten Autobombe nicht nur die Zielperson, sondern auch drei weitere sich ebenfalls im Fahrzeug befindliche Personen getötet, die eigentlich an jenem Abend nicht hätten dort sein sollen. Die drei waren zwar auch keine unbeschriebenen Blätter, aber sie waren keine Mörder, es gab keine Rechtfertigung für ihren Tod.
Kissinger hatte gelernt, mit diesen Ungereimtheiten in seiner Philosophie und seinem Verhalten zu leben. Kissinger hatte die Fähigkeit, gewisse Dinge konsequent auszublenden. Sie existierten dann einfach nicht.
Some people say …
Überhaupt, die Musik. Die Anstaltspsychologin – in diesem Gefängnis wurden sogar die Untersuchungshäftlinge psychologisch betreut – hatte diagnostiziert, dass seine Musik eine der Ursachen für seine Aggressionen sei. Nachdem sie das gesagt hatte, hatte Kissinger sich nach vorne gebeugt und in der ruhigen Art eines Zen-Meisters mit tiefer Stimme zu ihr gesagt:
– „Wirke ich wie ein aggressiver Mensch auf Sie?“
Sie hatte ihn entgeistert angeschaut.
– „Sehen Sie, man wirft mir vor, ein Auftragskiller zu sein. Kein Serienmörder. Ich bin zwar beides nicht, aber hier ein Rat für die Zukunft: Hüten Sie sich vor den Serienmördern.“
Nachdem er das gesagt hatte, schaute Kissinger der Psychologin wortlos tief in die Augen und zog die linke Augenbraue nach oben. Es sollte ihre letzte gemeinsame Sitzung gewesen sein.
Ich bin nicht meine Gedanken.
Was würde jetzt kommen? Kissinger war sich nicht einmal sicher, ob hier die Todesurteile wirklich noch durch den elektrischen Stuhl vollstreckt wurden, auch wenn es ins Bild gepasst hätte. Irgendwann würden sie ihn telefonieren lassen müssen, dann würde er endlich selbst etwas tun können anstatt nur dazusitzen und zu warten, dass andere etwas taten. Die bleierne Müdigkeit kehrte zurück. Seine Erinnerungen vermischten sich und bescherten Kissinger in der Folge einen sehr bildhaften und unangenehm realistischen Albtraum. Er wachte desorientiert auf.
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