Kissinger freute sich mittlerweile auf alle Aspekte eines neuen Auftrags. Die Vorbereitung, die Planung, das Warten, die Durchführung, das Adrenalin. Und insbesondere freute er sich auf das Töten. Er merkte es auch daran, dass er es immer öfter so einzurichten versuchte, dass er seine Opfer „von Hand“ erledigen konnte, mit dem Messer oder einem Draht. Das war die nackte, echte Wahrheit und in jenem Moment hatte er sie wortlos ausgesprochen.
Kissinger hatte die Zeichen lange ignorieren können, doch jetzt war es raus.
Es war nicht einmal ein ungewöhnliches Gefühl, es fühlte sich auf eine schwer greifbare Art und Weise natürlich an. War er ein derangierter Freak? Oder war er ein Durchschnittstyp? War er eine Anomalie oder hatte Dr. X nur etwas in ihm geweckt, das in allen Menschen schlummerte?
Wenn nämlich die Lust am Töten ein völlig normaler menschlicher Impuls sein sollte, der nur von der menschlichen Zivilisation im Zaum gehalten wird, so würde das einiges erklären. Die Kriege, die Schlachthöfe, die Ehrenmorde, die ethnischen Säuberungen, die Konzentrationslager, das ganze Grauen, das die menschliche Geschichte schon immer begleitet zu haben schien.
Kissinger musste mit dem Töten aufhören, dieser Tatsache musste er sich stellen. Sonst bestand die Gefahr, dass er irgendwann nicht mehr in der Lage sein würde, seinen sich immer stärker manifestierenden Drang zu kontrollieren.
Und dass er sich dann gegen Menschen wenden würde, die außerhalb des Kodex lagen.
Ich bin nicht dieser Stuhl.
Sie hatten ihn verhaftet und zeitgleich mit Rico aus dem Verkehr gezogen. Er hatte keine Möglichkeit mehr gehabt, sich mit seinem Bruder abzusprechen, und da er jetzt aller Möglichkeiten der Kommunikation beraubt war, konnte er nur mutmaßen, was mit Rico geschah.
Melancholie und Depression gewannen zusehends die Oberhand in Kissingers Gedankenwelt. Er wusste oft nicht, ob er wach war oder schlief oder ob er sich irgendwo dazwischen befand. Er ertappte sich immer öfter dabei, wie er sich in seine Jugendzeit zurückfantasierte. Eine Zeit, die plötzlich unwiderstehlich unschuldig und heimisch wirkte.
Ich bin nicht dieser Tisch.
Jedes System bringt Anomalien hervor. Die menschliche Gesellschaft ist da keine Ausnahme. Sie ist einfach nur ein System unter vielen. Kissinger hatte sich zeitlebens in der Rolle des Rebellen gefallen, des Unangepassten. Jetzt allerdings, in dieser Phase ungewohnter Ehrlichkeit gegenüber sich selbst, musste er zugeben, dass er sich prinzipiell nicht von der breiten Masse unterschied. Von der „Herde“, wie er sie immer wieder abfällig nannte. Er tat genau dasselbe wie alle, nur unter entgegengesetzten Vorzeichen.
Dieser Tisch ist kein Tisch.
Ein Königreich für einen Whiskey. Oder eine Zigarette. Irgendetwas, das in der Lage war, die Chemie seines Körpers zu verändern.
Wann fängt ein Tisch an, ein Tisch zu sein?
Wann hört ein Tisch auf, ein Tisch zu sein?
An der Wand neben dem kleinen vergitterten Fenster sammelten sich Fliegen. Sie flogen nicht umher, sondern liefen im Lichtkegel durcheinander die Wand entlang. Kissinger hatte den Eindruck, dass es jeden Tag ein paar mehr wurden, aber er konnte sich auch getäuscht haben.
Einen „Tisch“ gibt es nicht.
Von allen Kunstströmungen mochte Kissinger den Kubismus am meisten. Das war schon so, als er noch gar kein kubistisches Bild selbst gesehen hatte, nur darüber gelesen. Zu versuchen, ein Objekt gleichzeitig aus mehreren Perspektiven zu malen, das hatte was. Kissinger hat daraufhin einmal (erfolglos) versucht, eine seiner Zielpersonen von mehreren Winkeln aus gleichzeitig zu erschießen. Wie Kennedy, haha.
Something is wrong, something is terribly wrong …
Kissinger sah sich selbst gerne als eine westliche Inkarnation eines Samurai. Ein Ghost Dog, ein Mann, der von seinem Lehnsherrn Befehle bekam und diese ausführte, koste es, was es wolle. Er hatte die Hagakure gelesen. Er hatte Karate gelernt und angefangen zu meditieren.
Das mit dem Samurai war natürlich Unsinn wie jeder andere Erklärungsversuch auch. Es hatte wohl mit Watanabes Erziehung zu tun, die sowohl Kissinger als auch Rico fürs Leben geprägt hatte. Und die auch dazu geführt hatte, dass Maurie Feinstein sie beide von Japanern weiter ausbilden ließ, nachdem Dr. X sie für ihn angeworben hatte. Doch Kissinger war genauso wenig ein Samurai, wie er ein Kammerjäger war. Von wegen Korrektiv. Er war ganz sicher nicht derjenige, der das natürliche Gleichgewicht wiederherstellte. Er tötete Kriminelle, die andere Kriminelle aus dem Weg geräumt haben wollten. Und rechtfertigte es damit, dass er von seinem „Herrn“ den Befehl dazu bekommen hatte. Dass er quasi keine Wahl gehabt hätte, dass es nicht seine Verantwortung wäre. In der Stille seiner Zelle gestand er sich selbst ein, wie armselig das war.
Ich bin nicht dieser Körper.
Was wir für wahr halten, ist nicht wahr.
Es gibt kein „wahr“.
Der Knackpunkt war immer Kapital beziehungsweise dessen Mangel, gewesen. Bevor Kissinger mit Dr. X in Kontakt gekommen war, passten seine Ansprüche nicht mit seinen Finanzen zusammen. Kissinger hatte stets weitreichende Vorstellungen, doch nur überschaubare Mittel gehabt. Er hatte das Gefühl, seine Zeit verschwendet zu haben. Ein Gefühl der Leere, das weder Alkohol noch Drogen und schon gar keine Frau in der Lage waren zu vertreiben. Kissinger hatte einen Punkt erreicht, an dem er wahrscheinlich alles getan hätte, um der Monotonie des Alltags einer sinnlosen Welt zu entfliehen. Das und die Tatsache, dass er andere Menschen von jeher nicht besonders gut leiden konnte, hatten ihn zu einem dankbaren Opfer gemacht. Und jetzt, da er wusste, dass seine Begegnung mit Dr. X alles andere als ein Zufall gewesen war, von langer Hand eingefädelt von Rico und Feinstein, war alles noch klarer. Kissinger hatte den Misanthropen in sich immer gut übertünchen können, aber Dr. X hatte ihn direkt durchschaut.
Man kann ein Rad ebenso wenig davon abhalten, sich zu drehen, wie man die Sonne davon abhalten kann zu scheinen.
Stella. Kissingers Gedanken schweiften wieder ab. Er wehrte sich nicht dagegen.
„Suche nach Schönheit, Bruder.“ – Isaah Cunningham
Sie brachten Kissinger in einen fensterlosen, verspiegelten Raum. In der Mitte stand ein Tisch, auf beiden Seiten je ein Stuhl. Die Beleuchtung war kaltes Neonlicht. Sie setzten ihn auf den von der Tür abgewandten Stuhl und verließen wortlos den Raum. Kurze Zeit später betrat ein Mann im Anzug den Raum. Er hatte einen Aktenkoffer dabei.
– „Lennart de Luca. Der berüchtigte, manche sagen legendäre Kissinger. Endlich treffen wir uns.“
– „Und Sie sind … wer genau?“
– „Nennen Sie mich Agent Smith.“
– „Aha. Witzig. Warum bin ich hier?“
– „Wir wissen beide, warum Sie hier sind, Kissinger.“
– „Ich habe keine Ahnung.“
– „Der Jackson-Hit.“
– „Der was? Das ist eine Verwechslung. Ich habe keine Ahnung, wovon Sie sprechen.“
Welch interessante Wendung. Am Jackson-Hit war er tatsächlich nicht beteiligt gewesen und hatte ein wasserdichtes Alibi für den Zeitraum der Tat.
– „Ich dachte mir schon, dass Sie das sagen würden. Deshalb habe ich Ihnen etwas mitgebracht.“
„Agent Smith“ öffnete den Aktenkoffer und förderte ein extrem dünnes Notebook zutage. Er klappte es auf und stellte es so auf den Tisch, dass Kissinger den Bildschirm sehen konnte. Dann drückte er eine Taste.
Kissinger sah jemanden, der ihm zum Verwechseln ähnlich sah, auf dem Schirm.
Sein Oberkörper füllt den ganzen Bildschirm aus.
Читать дальше