Kissinger musste etwas tun, um die Lethargie zu bekämpfen. Liegestütze, Sit-ups, Gymnastik, Yoga, alles hatte er versucht, regelmäßig durchzuziehen. Die Enge der Zelle beschränkte seinen Aktionsradius, es fiel ihm unendlich schwer, sich aufzuraffen, was wahrscheinlich auch am durch und durch nährstoffarmen Gefängnisessen lag. Zweifelsohne bereiteten sie es absichtlich auf diese Art und Weise zu. Sie wollten sicherstellen, dass die Insassen nur ein Mindestmaß an Energie aus ihrer Nahrung ziehen konnten. Zusätzlich konnte man Kosten sparen. Zwei Fliegen mit einer Klappe.
Die Welt, die wir um uns herum sehen, ist eine Illusion, die auf falschen Annahmen basiert.
Kissingers wahrscheinlich größte Stärke war seine Fähigkeit, strategisch und langfristig zu denken. Er wusste, dass oftmals die langfristigen Auswirkungen kleiner Details sonst perfekt geplante Vorhaben scheitern lassen konnten.
Kissinger war besessen von Details. Ein kleines Detail war beispielsweise einer Reihe ranghoher japanischer Yakuza zum Verhängnis geworden: ihre Tätowierungen. Bei den Yakuza ist traditionell ein Großteil des Körpers tätowiert, damit zeigen sie ihre Gruppenzugehörigkeit und ihren Rang in der Hackordnung.
An den tätowierten Stellen ist die Haut quasi versiegelt, sie kann dort keine Giftstoffe ausscheiden. Dies hat zur Folge, dass die Leber mit einer erhöhten Konzentration an Giftstoffen zu kämpfen hat. In Verbindung mit dem gnadenlos hedonistischen Lebensstil eines Yakuza führt das früher oder später dazu, dass die Leber kapituliert und eine Lebertransplantation notwendig wird.
Die Yakuza standen vor dem Problem, dass sie zwar in Japan de facto unantastbar waren, auch oder gerade für ausländische Strafverfolgungsbehörden, doch die weltweit beste Adresse für Lebertransplantationen befand sich im UCLA Medical Center in Los Angeles.
Das wussten auch FBI und Interpol, und so legten sie sich auf die Lauer, waren wachsam und warteten. Einer nach dem anderen war ihnen in die Falle gegangen, bevor die Yakuza-Clans schließlich gezwungen waren, ihre Strategie zu ändern und die notwendigen Lebertransplantationen wieder in Japan durchführen zu lassen. Warum sie nicht einfach aufhörten, sich am ganzen Körper zu tätowieren, war eine ganz eigene Frage.
Man unterschätze niemals die symbolische Macht althergebrachter Rituale.
Ich bin nicht mein Hass.
Kissingers oberste Priorität bestand in jenem Moment darin, Zeit zu schinden. Irgendwann würden Riceman und Feinstein ihn finden, da war er sich sicher.
Nach wie vor hatte er keine Ahnung, warum man ihn an diesem Ort auf Eis gelegt hatte, ohne Kontakt zur Außenwelt. Keine Zeitung, kein Fernsehen, kein Netzzugang. Er war nicht verhört worden, er war keinem Richter vorgeführt worden, es war ihm keine Anklage verlesen worden, man hatte ihn weder geschlagen noch gefoltert. So konnte er nichts tun, als zu warten und sich auf alle erdenklichen Szenarien vorzubereiten. Kissinger hatte es stets für wichtig erachtet, Entwicklungen, auch gesellschaftliche Entwicklungen, zu antizipieren und die richtigen Schritte früh genug in die Wege zu leiten. Warum er seine momentane Situation nicht hatte kommen sehen, beschäftigte ihn. Sie hatten ihn kalt erwischt. Vielleicht wurde er alt und fing an, Fehler zu machen. War es vorbei?
Korrekt vorausgesehen hatte Kissinger auf jeden Fall die totale Ökonomisierung des Lebens. Schon in jungen Jahren war ihm bewusst geworden, dass er das für seine Vorstellungen von einem würdevollen Leben nötige Kapital höchstwahrscheinlich niemals legal würde verdienen können. Vor diesem Hintergrund war es denn auch nur die halbe Wahrheit, sich vorzumachen, dass Dr. X ihn zu etwas überredet hätte, als er Kissinger sein verlockendes Angebot unterbreitet hatte. Geld war zum Maß aller Dinge geworden. Immer und überall. Kissinger war sich dessen bewusst, und dennoch überraschte es ihn stets aufs Neue, dass sich nicht ein Einziger bis dato ernsthaft dafür interessiert hatte, wo sein Geld herkam.
Die Bonität prüften sie alle akribisch, klar, aber die Herkunft des Geldes? So kam es, dass Kissinger ein halbes Dutzend Immobilien in der ganzen Welt sein Eigen nennen konnte und einen durchaus gehobenen Lebensstil zu pflegen in der Lage war.
Ich bin nicht diese Zelle.
Man gewöhnt sich an alles, so erstaunlich das auch sein mag. Nach seinem ersten Hit hatte Kissinger Höllenqualen gelitten, gekotzt, geweint, zehn Tage hatte er im Halbdunkel dahingedämmert, sich besoffen, sich betäubt.
Er unterschied sich in diesem Punkt grundsätzlich vom üblichen Mafiaschergen. Kissinger hatte in seiner Karriere nicht wenige getroffen, die töteten, ohne darüber nachzudenken, für die ein Hit einfach ein selbstverständlicher Teil des SPIELS war und die weder ein Interesse noch die intellektuellen Fähigkeiten für ein Verständnis der weiterführenden Zusammenhänge hatten.
Sie taten oft nicht, was man ihnen sagte, sie arbeiteten unkonzentriert und schlampig und hatten meist nur eine kurze Zeitspanne zur Verfügung, bevor sie entweder tot oder im Knast waren. Kanonenfutter. War der eine weg, nahm sofort der Nächste seinen Platz ein.
Kissinger war da anders. Er dachte langfristig und war seit vielen Jahren im Geschäft. Er hatte genug Zeit gehabt, Erfahrungen zu sammeln und sich eine Reputation aufzubauen, Kissinger war ein Spezialist.
Auftrag Nummer zwei war immer noch die Hölle, allerdings ging sie schneller vorbei. Jedes weitere Mal wurde es etwas besser, mittlerweile konnte er sich gar nicht mehr an alle Morde erinnern. Es war wie bei den Frauen, mit denen er einmal etwas gehabt hatte: In jüngeren Jahren war er der festen Überzeugung gewesen, dass er nie eine vergessen würde, doch jetzt bekam er vor seinem geistigen Auge längst nicht mehr alle zusammen.
Lange Jahre hatte Kissinger Dr. X die Schuld an seiner Karriere als Auftragskiller gegeben, weil dieser ihn in jener Nacht psychologisch geschickt durch gezielte Fragen auf eine Ja-Straße geschickt hatte.
Er war an die Kreuzung gekommen und der Teufel hatte ihm einen Deal angeboten. Seine Seele gegen alles, was er sich wünschte.
Jetzt aber wurde ihm langsam klar, dass Dr. X nur etwas zum Vorschein gebracht hatte, das unter der Oberfläche immer schon da gewesen war. Kissinger verfügte offensichtlich über ein spezielles Persönlichkeitsmerkmal, durch das er für das Töten prädestiniert war, und Dr. X hatte das erkannt.
Regierungen hatten es schon lange verstanden, dieses rare Persönlichkeitsmerkmal bereits bei Kindern zu erkennen, um diese Kinder dann speziell zu betreuen und dafür zu sorgen, dass sie keine Gefahr für sich selbst oder den Rest der Gesellschaft darstellten. Totalitäre Regimes wie weiland die Sowjetunion wiederum filterten diese Problemkinder auf ihre Art aus.
Versuchten die westlichen Gesellschaften, solche Kinder zu sozialisieren, förderte man in der Diktatur ihre Neigungen und integrierte sie auf andere Art in die Gesellschaft. Spezialeinheiten, Staatspolizei, Killerkommandos, der Bedarf war groß.
Die Privatwirtschaft wiederum bezahlte gut für die Dienste derartig prädisponierter Menschen, auch hier war die Nachfrage groß. Es gab immer etwas zu tun.
D ie Nacht war nicht halb vorbei, da sagte er Ja.
Eine Frage blieb: Was war, wenn das rare Persönlichkeitsmerkmal, das ihn zum Killer hatte werden lassen, so rar gar nicht war? Die Einsamkeit in der Zelle, die Ruhe und die Unsicherheit seiner Situation brachten Kissinger in einen für ihn ungewohnten mentalen Zustand der Selbsterkenntnis. Er fing an, Dinge vor sich selbst zuzugeben, Dinge, die er verdrängt oder übertüncht hatte. Er hatte sich Stück für Stück an das Töten gewöhnt, irgendwann hatte es aufgehört, ihm etwas auszumachen. Er hatte eine Möglichkeit gefunden scheinbar einfach sein Geld zu verdienen. Einen Job. Irgendwann würde ein Punkt erreicht sein, an dem die Entwicklung abgeschlossen sein würde und man schlicht nichts mehr empfand beim Töten und einfach emotionslos und leer handelte, richtig? Falsch. Die Wahrheit war, dass die Entwicklung nicht aufgehört hatte. Das Töten hatte irgendwann angefangen, Kissinger Spaß zu machen. Anfangs nur ein wenig, aber jedes Mal ein bisschen mehr. Er hätte sich schon längst zur Ruhe setzen können, aber er machte immer weiter. Immer noch ein Auftrag, noch ein Job. Das Geld brauchte er schon lange nicht mehr, er besaß mehr, als er je würde ausgeben können. Die Anzahl von Hamburgern, die man essen kann, ist begrenzt.
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