Schnitt.
Kissingers Gesicht ist zu sehen. Hochauflösend, sogar die Falten um Augen und Mund sind erkennbar.
Schnitt.
Er hat ein Gewehr mit Zielfernrohr im Anschlag, das rechte Auge geschlossen.
Bildschnitt.
Auf der darunterliegenden Straße hält ein Wagen. Jacksons Wagen.
Der Fahrer öffnet die hintere Tür.
Schnitt.
„Kissinger“ drückt zweimal ab. Mündungsfeuer.
Schnitt.
Jackson bricht getroffen zusammen. Seine Lakaien zücken panisch ihre Waffen und gehen in Deckung, so gut es geht. Sie suchen die Häuserfronten nach der Quelle der Schüsse ab.
Schnitt.
„Kissinger“ packt das Gewehr in eine Nylontasche und verlässt, ohne Zeit zu verlieren, das Zimmer.
So viel zum Thema Verwechslung.
Zwei HD-Kameras hatten die Szene AUS VERSCHIEDENEN BLICKWINKELN aufgezeichnet. Da wollte jemand einen absolut wasserdichten Beweis. Einen wasserdichten Beweis für eine Tat, die Kissinger nicht begangen hatte. Das war ihm gelungen. Was jetzt?
– „Was jetzt?“, fragte Kissinger sichtlich konsterniert.
– „Nichts jetzt. Sie sollten einfach nur unmissverständlich klargemacht bekommen, wie die Dinge liegen. Sie bekommen jetzt noch etwas Zeit, das Gesehene in seiner ganzen Tragweite zu verarbeiten. Dann unterhalten wir uns noch mal.“
– „Das ist Blödsinn. Was wollen Sie von mir? Der Film ist eine Fälschung, und das wissen Sie.“
– „Wir haben einen Zeugen, der die Echtheit des Videos unter Eid bestätigt hat.“
– „Zeuge? Was für ein Zeuge?“
– „Alles zu seiner Zeit. Goodbye, Kissinger.“, sprach Agent Smith, packte das Notebook wieder in den Aktenkoffer und verließ den Raum. Im Hinausgehen warf der Agent Kissinger einen vielsagenden Blick zu.
Zurück in seiner Zelle, hatte Kissinger allen Grund nachzudenken. Sie hatten ihn am Arsch, es ließ sich nicht treffender ausdrücken. Warum hatten sie bis dato kein Kapital aus ihrem Übergewicht geschlagen?
Jemand wollte Kissinger eins auswischen, und das war ihm gelungen, und die hirnlosen Bullen spielten brav mit. Die Tatsache, dass sie das Gesetz brachen, indem sie ihn nicht telefonieren ließen, bedeutete nichts Gutes. Auf der anderen Seite war er nicht bedroht und auch nicht schlecht behandelt worden. Was bedeutete, dass sie etwas von ihm wollten. Sie wussten, wer er war, kannten sogar seinen Spitznamen. Entweder sollte er einen Auftrag für sie erledigen oder jemanden verraten. Scheiße – so oder so. Wenigstens würde endlich etwas passieren.
Alles war besser als die momentane Situation. Eingesperrt, verloren, weit weg von zu Hause.
Stranger in a strange land.
Die bleierne Müdigkeit kehrte zurück. Die Zeitspannen, in denen Kissinger in der Lage war, aktiv zu sein, wurden immer kürzer.
Er musste fit bleiben.
Es fiel ihm immer schwerer, etwas dafür zu tun.
Zurück im fensterlosen Raum. Wie viel Zeit seit dem letzten Mal vergangen war, konnte Kissinger nicht sagen, sein Zeitgefühl ging mehr und mehr verloren. Die Tür öffnete sich. Agent Smith trat ein.
– „Hallo, Kissinger. Sie haben nachgedacht, hoffe ich.“
– „Das habe ich in der Tat. Und hören Sie auf, mich Kissinger zu nennen. Sie verwechseln mich. Und eins kann ich schon mal garantieren: Die Klage, mit der ich Sie überziehen werde, wird sich gewaschen haben. Egal was Sie mir vorwerfen, ich habe das Recht zu telefonieren. Ich verlange SOFORT mein Telefongespräch.“
– „Hmm. Das mit dem Recht ist so eine Sache. Sie sind kein amerikanischer Staatsbürger, Mr. de Luca.“
– „Wen interessiert’s? Der Rechtsstaat garantiert JEDEM einen fairen Prozess. Außerdem habe ich eine Greencard.“
– ‚Hatte eine Greencard‘ – die Vergangenheitsform – wäre wohl die angebrachte Formulierung in diesem Fall. Und was das Thema Grundrechte betrifft, diese sind stark eingeschränkt, wenn es sich wie in Ihrem Fall um einen ‚ungesetzlichen Kombattanten‘ handelt. Terroristen und die Unterstützer von ebensolchen genießen nicht dieselben Rechte wie aufrechte Bürger.“
– „Terroristen? Was soll der Scheiß?“
Agent Smith öffnete seinen Aktenkoffer und zog ein Dossier hervor.
Er öffnete die Akte und holt einige Fotos heraus.
Er übergab Kissinger das erste Foto und sagte:
– „Voilá, Lennart de Luca bei einem Anarchistentreffen, Italien 1989.“
Das Foto zeigte einen sehr jungen Kissinger, wie er in einem Auditorium neben einigen Punks und Hippies saß, sein Blick Richtung Bühne gerichtet, wo jemand eine Rede hielt. Kissinger war sprachlos. Er war dort gewesen, keine Frage. Ihn schockierte, dass so ein Foto überhaupt existierte und dass er jetzt damit konfrontiert wurde. Es stammte aus einer Zeit lange bevor er überhaupt mit Dr. X in Kontakt gekommen war. Dem Umfang des Dossiers nach zu urteilen würden vermutlich noch einige Überraschungen auf ihn warten.
– „Ja, na und? Das war in den Achtzigern ganz normal. Politik. Die Partei, die das veranstaltet hat, war zu der Zeit im italienischen Parlament.“
Agent Smith reichte ihm das nächste Foto.
– „Lennart de Luca zusammen mit Angel Esteban, London, 1987.“
Das Foto zeigte Kissinger mit einem anderen jungen Mann und einer Japanerin bei einem Rockkonzert im Publikum hinter einem Moshpit stehen.
– „Was soll das? Das war bei einem Konzert der Suicidal Tendencies. Ist es jetzt verboten, Konzerte zu besuchen?“
– „Wenn man es mit einem Mitglied einer Familie tut, die im Drogenhandel tätig ist und den internationalen Terrorismus unterstützt, dann schon.“
– „Seit wann wurde ich überhaupt beobachtet? Und warum? Von wem? Vom Geheimdienst?“
– „Immer schon. Wir führen Akten über alle Waisenkinder in unserer Obhut. Speziell bei den nicht in Amerika geborenen. Wir wissen schon, warum. Es bestätigt sich immer wieder, dass wir damit recht haben. Sehen Sie hier.“
Er übergab ein weiteres Foto an Kissinger.
– „Lennart de Luca mit Abdullah Ibn Said, Südengland, Mitte der Achtziger.“
„Das ist doch absurd. Wir haben zusammen studiert. Ich hatte, wenn überhaupt, nur sehr losen Kontakt zu ihm und habe seit Jahrzehnten nichts von ihm gehört oder gesehen.“
– „Das mag alles sein. Ist aber irrelevant. Wieso? Weil es eine Verbindung zwischen Ihnen und international gesuchten Verbrechern und islamistischen Terroristen herstellt. Und das macht Sie zu einem ungesetzlichen Kombattanten im Krieg gegen den Terrorismus. Und das bedeutet, dass Sie Ihren Anruf vergessen können.“
– „Das ist Blödsinn, Mann, und das wissen Sie auch.“
– „Das mag sein. Aber der Bundesrichter, der Ihren Haftbefehl unterzeichnet hat, sieht das anders.“
Kissinger lief es kalt den Rücken runter. Er hatte sich mental auf alles Mögliche vorbereitet, aber das hier? Da hatte sich jemand sehr gut vorbereitet, um ihn in eine Ecke zu manövrieren, aus der er ohne fremde Hilfe nicht herauskommen würde. Als Randnotiz registrierte Kissinger, dass seit Mitte der Achtzigerjahre – lange vor dem elften September – der Begriff „islamistischer Terrorist“ im Vokabular des Staates vorkam. Wie viele Dossiers wie das über ihn existierten wohl?
Es war klar, dass sie wussten, dass er kein Terrorist war. Es war auch klar, dass er Zeuge einer Machtdemonstration geworden war. Man wollte ihm etwas klarmachen.
– „Was wollen Sie?“
– „Wir wollen Maurice Feinstein. Wir wollen, dass Sie auspacken, Kissinger.“
– „Wen?“
– „Ich hatte gehofft, dass die Verhältnisse jetzt klar wären und wir uns die Spielchen sparen können. Ihn schützen zu wollen ist auch nicht angebracht. Feinstein ist der Grund, warum Sie hier sind. Wir haben ihn vor die Wahl gestellt: Er oder Sie? Wenn Sie sich Ihre momentane Situation genau ansehen, ist klar, wie die Antwort ausgefallen ist, oder? Aber gut, ich habe Zeit und Sie laufen mir sicher nicht davon. Freuen Sie auf weitere Quality Time in Ihrer Zelle.“
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