»Dann alle Achtung. Das ist sehr diszipliniert und zeugt von Durchhaltevermögen«, sagt sie doch glatt.
Das ich nicht lache. Für mich habe ich das bestimmt nicht gemacht. Für meine Eltern? Oder doch für mich, weil ich am Ende selbst glaubte, dass nur Bildung mich weiterbringen würde? Bildung ist das A und O, dieser Satz wird ja nun wirklich Jedem jeden Tag eingehämmert. Doch was nützt einem die Bildung, wenn man dabei selbst auf der Strecke bleibt?
Irgendwie werde ich ärgerlich. Ich denke an den kleinen Angsthasen und an meine geliebte Streuselschnecke zurück. Da war die Welt noch in Ordnung, da habe ich sie noch verstanden mit meinem kleinen Kindergehirn. Jetzt musste ich auf die Couch, um meine Welt wieder zu ordnen, um mich und meinen Werdegang zu verstehen. Ich will auch einen Orden für Mut bekommen! Doch, was hatte ich schon Mutiges getan? Nichts.
Mein Leben fühlt sich wie eine Kassette an, die ich jetzt zurückspule, um sie noch mal von Anfang an zu hören. In Wirklichkeit gibt es nicht mal mehr Kassetten, sondern nur noch digitale CDs, MP3s und weiß der Geier was noch. Wo waren die Kassetten geblieben?
»Ja, die Zeit ist zu Ende. Wir sehen uns bald wieder«, sagt Frau Hirte.
Ausgerechnet jetzt? Ich befinde mich mitten im Rede- und Denkfluss und von ihr kommt nur der Satz, dass die Zeit um ist? Jetzt darf ich mich wieder anziehen und gehen. Und das Geld auf den Tisch legen und sagen, danke fürs Zuhören?
Es ist beschämendes Gefühl, jetzt einfach aufzustehen und zu gehen, nachdem ich mich gerade »geöffnet« habe. In mir wirken die Kindheits- und Jugenderinnerungen nach. Ich rieche den Duft in der Bäckerei meines Vaters. Ich sehnte mich wie verrückt nach einer Streuselschnecke. Und jetzt soll ich aus der Vergangenheit wieder auftauchen? Puh, das ist nicht so einfach. Ich schnelle von der Couch hoch, denn ich will Frau Hirtes Zeit nicht weiter beanspruchen. Irgendwie fühle ich mich wie bestellt und nicht abgeholt.
»Auf Wiedersehen«, sagt Frau Hirte. Sie schaut mich warmherzig an und lächelt. Ich drücke schnell ihre Hand und halte in der anderen meine überdimensional große Handtasche, ein Mitbringsel aus dem letzten Urlaub in Italien.
»Ja, Tschüss!« Ich bin noch völlig neben der Spur.
Hinter mir schließe ich die Tür zu und sehe, dass bereits eine andere junge Frau im Vorraum wartet. Sie ist sicher die nächste Patientin. Die nächste, die sich auf die Couch legt. Was die wohl für Probleme hat? Sie sieht extrem dünn aus. Wahrscheinlich Magersucht oder Bulimie, vermute ich mal. Auf jeden Fall verbreitet sie einen gewaltigen Knoblauchgeruch, der vorher noch nicht da war. Bin ich froh, dass ich jetzt keine Stunde mit der und ihrem Geruch verbringen muss.
Ich bleibe dabei und gehe ins Café Berta, um mir etwas Gutes zu tun. Gedankenverloren laufe ich den Gehweg entlang und torkle irgendwie. Komisch, ich bin völlig aus dem Konzept. Zum Glück habe ich jetzt frei und muss nicht ins Büro zurück. Im Café Berta sitzen etliche Leute, trinken Kaffee und unterhalten sich. Ich hätte jetzt auch Appetit auf einen Milchkaffee, doch ich will mich nicht alleine an einen Tisch setzen. Das kann ich irgendwie nicht. Ich hab noch nie irgendwo ohne Begleitung gesessen und Kaffee getrunken. Wenn ich mal allein in einem Café saß, dann nur für kurze Zeit, weil ich auf jemanden wartete. Aber mich einfach so allein an einen Tisch hinzusetzen, das traue ich mich nicht. Ich finde, dass sieht bescheuert aus. So einsam und verlassen, so bemitleidenswert. Und dann gucken einen vielleicht noch alle an. Danke, nein. Das muss ich nicht haben.
Ich stehe vorne an der Verkaufsvitrine und mustere die Kuchenangebote. Die Streuselschnecken gefallen mir nicht besonders. Sie sehen anders aus als die, die ich kenne. Anders als die, die mein Vater immer machte. Die hier scheinen sehr trocken zu sein und mit Zuckerguss haben sie auch reichlich gespart. Mit den harten Dingern könnte man Frisbee spielen oder Scheiben einschlagen. Aber essen? Nein danke. Ich will dich keine kaufen. Entweder kriege ich die aus meiner Kindheit oder keine. Die Verkäuferin zuckt mit den Schultern, als ich mich umdrehe und gehe. Tja, da werde ich wohl doch mal wieder nach Hause in die Bäckerei meines Vaters fahren müssen, um Kindheitserinnerungen aufzufrischen. Wenigstens geschmackstechnisch.
Ich gehe zu meinem Auto und lenke mich aus der engen Parklücke heraus. Sofort fange ich an zu schwitzen und zu fluchen, weil mein alter Polo keine Servolenkung besitzt. Aber ich will nicht meckern, das Auto hat inzwischen etliche Jahre auf dem Buckel und mich bisher überall hingebracht. Nach Wuppertal, nach Frankfurt am Main und sonst wo hin. Die Karre hat viel von Deutschland gesehen und jetzt sind wir beide wieder zu Hause. Weil wir beide schwächelten. Hier an der Küste gefällt's uns doch am besten, oder? Wir zwei von der Waterkant.
Ich mache mein Handy wieder an. Es piept los. Aaron schrieb mir eine Nachricht: Wie war Deine Stunde bei Frau Hirte? Habt Ihr auch über mich gesprochen? Liebe Grüße, Aaron. Na, der hat Nerven! Wieso sollten wir über ihn sprechen? Es geht um mich und nicht um ihn. Was der sich einbildet! Ich habe jetzt keine Lust ihn anzurufen. Doch es klingelt bereits in meiner Hand. Als rationaler Zahlenmensch weiß er natürlich, dass der Termin längst zu Ende war. Ich halte den Hörer mit der rechten Hand ans Ohr.
»Hallo Lieschen, wie war's?«, fragt Aaron gespannt.
Ich ärgere mich, dass er Lieschen zu mir sagt, wo er doch weiß, dass ich von ihm Elisa genannt werden will.
»Es war ganz okay. Ich kann noch gar nicht viel sagen, ich muss das alles sacken lassen«, antworte ich.
»Worüber habt Ihr denn gesprochen?«
»Ach, über dies und das.« Ich halte meine Antwort bewusst vage.
»Hast Du auch von mir erzählt?«
»Nein, überhaupt nicht. Wir hatten irgendwie kein richtiges Thema, ich kann das schlecht beschreiben. Auf jeden Fall habe ich ein bisschen was über meine Kindheit erzählt.«
»Und was?«, fragt er neugierig nach.
»Dass ich so gerne das Buch vom kleinen Angsthasen gelesen und so gerne Streuselschnecken gegessen habe.«
»Ah ja, und deshalb musst Du jetzt eine Therapie machen?«, er lacht darüber. »Das kannst Du mir auch alles erzählen, dafür musst du nicht zu Frau Hirte gehen. Worüber sprecht ihr beim nächsten Mal?«
»Ich weiß es nicht, mal schauen.«
»Hat Sie nichts gesagt? Sie muss doch ein Konzept haben für die Therapie!«
Aaron kann das auch nicht verstehen. Er braucht auch für alles eine Gebrauchsanweisung, einen Leitfaden. Ich habe jetzt keine Lust mit ihm darüber zu sprechen. Außerdem sitze ich im Auto und will endlich losfahren.
»Lass uns heute Abend telefonieren«, bitte ich nur.
»Okay, dann bis später.« Er legt auf.
Ich bin genervt und fühlte mich von ihm überwacht. Wir telefonieren doch sowieso jeden Abend Punkt neun Uhr, da müssen wir doch nicht noch zehnmal während des Tages miteinander sprechen. Früher, am Anfang unserer Beziehung, fand ich das noch ganz spannend. Doch mittlerweile nicht mehr. Das wirkt so kontrollierend. Sobald ich ihm das sage, reagiert er eingeschnappt und fragt, ob ich ihn nicht mehr liebe und nicht mehr an meinem Leben teilhaben lassen will. Eine Fernbeziehung ist wirklich nicht einfach. Zumal Aaron auch drängelt, dass ich zu ihm nach Darmstadt ziehe. Doch ich will unbedingt noch die Therapie bei Frau Hirte machen. Das versteht er nicht.
»In Darmstadt kannst Du auch eine Therapie machen, dafür musst Du nicht in Rostock bleiben«, hielt er mir vor kurzem vor.
»Ich will Zeit für mich haben, weil es auch um mich geht«, entgegnete ich daraufhin.
Er akzeptiert es zwar, doch irgendwie scheint er trotzdem nicht begeistert von der Therapie. Und ich will nicht in einen Ort ziehen, der Darm-Stadt heißt.
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