Gut zu wissen. Ich will aus meiner eigenen kleinen Welt herauskommen. Auch bei Frau Hirte. Aber eine gewisse Vorsicht scheint dennoch geboten. Die Menschen stecken einen immer zu schnell in ihre Urteilsschubladen. Wenn man gedanklich in eine solche verfrachtet wird, ist es sicher nicht so schlimm, wie in der Realität von Männern erst in eine weiße Zwangsjacke und dann in die Klapse gesteckt zu werden, um Tabletten unter Aufsicht einnehmen zu müssen. Nein, danke. Ich schlucke nichts mehr einfach so herunter.
Mir fällt ein, dass in meinen Schulzeugnissen oft stand, dass ich mich sehr gut anpassen konnte und dass ich sehr artig war. Ich habe wirklich selten etwas Unerlaubtes getan und war stets ruhig. Eine richtige Traumliese. Mich konnte man als Kind irgendwo abstellen, vergessen und nach drei Stunden wieder abholen. Und dann war ich immer noch da, weil ich mich vor lauter Angst und Schüchternheit keinen Zentimeter bewegt habe. Andere Kinder haben in diesen drei Stunden schon die halbe Welt erkundet und erobert. Ich nicht. Ich habe immer brav gewartet.
Gewartet auf bessere Zeiten, auf die Sommerferien, aufs Großwerden, und dann auf die große Liebe, auf einen tollen Job, auf ein schönes Leben. Mein Leben lang warte ich auf etwas. Und das mit Beharrlichkeit. Warum nehme ich mir nicht einfach etwas? Warum warte ich wie blöd? Vor allen Dingen, wie lange denn noch? Bis ich alt und schrumpelig bin? Wieso greife ich nicht einfach zu? Das Büffet des Lebens ist doch für alle da und rund um die Uhr geöffnet. Ja, wie bescheuert bin ich überhaupt? Dämlich stehe ich da und glotze, wie die anderen sich an den Köstlichkeiten des Lebens bedienen und lasse ihnen auch noch den Vortritt, bescheiden wie ich bin. Jetzt ist Schluss damit!
Ich muss tief durchatmen, in mir fängt es wie in einem Schnellkochtopf an zu brodeln. Mir wird außerdem heiß. Ich könnte losschreien, möchte alle wegscheuchen. Mit meiner lauten Stimme vertreiben.
»Laute Stimme, dass ich nicht lache«, sagt mein Kopf. »Seit wann hast du eine laute Stimme? Lieschen Schön ist doch immer nur schön leise.«
»Wenn du wüsstest,« sagt da plötzlich mein Bauch und knurrt wie verrückt. »Wenn du wüsstest, was alles für Töne in mir drin stecken, würdest du dir die Ohren zuhalten.«
Was passiert denn jetzt? Bauch gegen Kopf. Kopf gegen Bauch. »Ja, halt die Klappe«, sage ich in Gedanken zu meinem Kopf. »Jetzt hast du mal Sendepause und dein ständiges Dreinreden auch. Und wenn du nicht endlich still bist, dann schick ich dich für unbestimmte Zeit in den Urlaub.« Das wirkt! Mein Bauch freut sich.
»Ich frage mich, wo Sie gerade sind«, sagt Frau Hirte nachdenklich.
Das frage ich mich ehrlich gesagt auch. Wo bin ich bitte schön?
»Mein Bauch und mein Kopf haben sich gerade unterhalten. Das ist ziemlich anstrengend.«
»Worüber denn?«
»Generell über ihre Existenz, über ihre Stellung sozusagen.«
»Kämpfen sie gegeneinander? Lehnt sich Ihr Bauch jetzt auf gegen Ihren Kopf?«
»Ja, er lässt sich nicht mehr alles gefallen. Er will nicht mehr brav warten, bis er etwas bekommt. Er verhungert sonst.«
»Aha«, sagt sie. »Er hungert nach Aufmerksamkeit, ja? Nach Leben?«
»Genau.«
»Und wie sehen Sie das? Wo stehen Sie?«
Gute Frage, wenn ich das wüsste. Ich weiß nur, wo ich stehen will. Nämlich in der Mitte. In meiner Mitte. Und die Mitte ist das Herz. Und das Herz steht für die Liebe. Für die Liebe zu mir und zu allem, was in mir ist und außerhalb von mir. Klingt doch logisch. Hört sich glasklar an.
»Also«, beginne ich, »in der Mitte stehe ich oder will ich stehen. In der Mitte von meinem Herzen. Und das ist das Zentrum. Kopf und Bauch stehen auf einer Stufe und haben je nach Situation ihre Stellung abzuwägen. Doch nicht aus einem Kampf heraus, sondern eher im gegenseitigen Einverständnis.«
»Sie wollen also Diplomatie walten lassen?«, Frau Hirte klingt amüsiert.
»Ich würde eher sagen Demokratie. Denn die Liebe im Herzen bewertet und verurteilt nicht.«
»Woher haben Sie das? Ist das von Ihnen oder haben Sie das gelesen?«
Was ist denn das für eine Frage?
»Das ist mir gerade in den Sinn gekommen. Ich finde, das ist doch ziemlich logisch, oder?«
Glaubt sie, ich habe vorher ein Buch über die Liebe gelesen? Sicher, ich habe viele Psycho-Bücher gelesen, wirklich viele. Doch lesen und etwas wirklich mit Bauch und Herzen zu kapieren sind zwei Paar Schuhe. Von wegen man muss sich selbst lieben lernen, sich selbst und anderen verzeihen, ein Zehn-Punkte-Programm zum großen Glück absolvieren. Was für ein Geschwafel. Das sind doch nur Worte, reine Theorie. Gelesen habe ich mehr als genug, kapiert habe ich gar nichts. Und jetzt liege ich hier und komme langsam dahinter, was die ganzen Autoren mit ihrer Wortsülze eigentlich meinen. Aber nur, weil ich's selber durchlebe. Zeit wird's auch, Lieschen. Nicht Lesen ist Lernen, sondern Leben ist Lernen. Meine Güte, tolle Weisheit! Ich bin beeindruckt von mir.
»Ich lebte früher nur durch Bücher«, sage ich zu Frau Hirte. »Mein Leben spielte sich in meiner Fantasie ab. Ich finde, jetzt kann sich mein Leben ruhig mal in der Realität verwirklichen. So als wäre mein Leben ein Buch und ich schreibe die Seiten, jeden Tag eine neue. Ich will nicht länger die Welt der anderen konsumieren. Ich habe schließlich meine eigene Fantasie.«
»Und die wollen Sie ausleben?«
»Ja, das will ich.« Ich will endlich am Leben teilnehmen. Zuschauer war ich lange genug.
»Ich will die Welt so malen, wie es mir gefällt, wie Pippi Langstrumpf«, sage ich.
»Ja, da haben Sie recht.«
»Und Pippi Langstrumpf wohnte in der Villa Kunterbunt. Ich will auch so eine haben.«
Frau Hirte lacht: »Wollen Sie etwa auch ein Pferd?«
»Nein, Pferde sind nicht so meins. Ich finde Elefanten toll. Sie wirken gemütlich, ruhig und stark.«
»Oh, ein Elefant braucht aber mehr Platz im Garten als ein Pferd.«
»Ich stelle mir gerade vor, wie Eli, so würde er dann heißen, jeden Morgen seinen langen Rüssel durch das offene Küchenfenster steckt, um mir die Hand zu schütteln. Und ich gebe ihm dann einen frischen und abgewaschenen Apfel.«
»Damit er keinen Durchfall kriegt?« Sie lacht los und ich stimme mit ein. »Eine schöne Vorstellung, wie Sie den Morgen verbringen«, sagt Frau Hirte.
»Er könnte mich nach dem Frühstück auch zur Arbeit bringen. Nur mit dem Parkplatz wäre es etwas schwierig. Solche großen Flächen haben wir gar nicht in der Firma.«
»Vielleicht kriegen Sie ja dann einen Sonderparkplatz für Eli. Während Sie arbeiten, könnte er sich ausruhen.«
Wir lachen beide. Es ist schön, dass sie mir zuhört und sich auf meine Geschichte einlässt. Ich bin 28 Jahre alt und Frau Hirte erlaubt mir wieder zu träumen. Sie erlaubt mir sogar, meine Fantasie mit ihr zu teilen. Sie erlaubt mir, wieder ein Kind zu sein. Ein großes Kind.
Es fängt wieder an zu regnen. Man hört das laute Plätschern auf dem Fensterbrett und an den Fensterscheiben. Im Hintergrund grollt Donner, so laut wie vorhin mein Bauch. Ich liebe Gewitter, die feurigen Blitze und das Getöse des Himmels. Je lauter, desto besser. Das Gewitter zeigt uns, wie klein wir Menschen sind und das es noch etwas Größeres gibt als uns. Es ist, als ob der Himmel ärgerlich ist und das lautstark zeigt und zwar auf direkte Art und Weise. Das finde ich gut. Wenn ich Ärger fühle, schlucke ich ihn runter. Und deshalb mag ich Unwetter. Die Natur und der Himmel schlucken nichts herunter. Im Gegenteil: Sie sind laut und zornig, sie überspülen uns mit Regen, sie feuern Blitze ab. Das würde ich auch gerne können. Doch ich traue mich nicht. Lieschen Schön ist schön gehemmt. Na ja, das ist jetzt ein anderes Thema. Und so viele Themen will ich heute nicht mehr aufnehmen oder hervorbringen. Es wird langsam zu viel für mich.
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