Florent hatte eine Menge Fragen, aber die würde Markward ihm sowieso nicht beantworten. Also schwieg er.
Von Annweiler schob den schweren Armlehnstuhl zurück und ging zum Fenster. „Nur, dass wir uns richtig verstehen: Ich bin noch immer dem Andenken des Kaisers Heinrich treu und sorge mich um seinen legitimen Nachfolger. Wenn Ihr ehrlich seid, war das, was Friedrich bisher an Erziehung erhielt, seiner nicht würdig.“
Florent stutzte zunächst bei dem ungewohnten deutschen Namen seines Schützlings.
Der deutete sein Schweigen falsch und sprach eindringlicher weiter. „Er liest keine Gesetzestexte, er spricht nur zwei Sprachen.“
„Drei!“, fiel ihm Federico ins Wort. „Beinahe vier. Volgaro, Deutsch und Latein, ein bisschen hebräisch hab ich vom Judenarzt gelernt.“
„Das genügt nicht. Die Gerüchte seiner Verwahrlosung verbreiten sich nicht nur auf der Insel, sie dringen bis aufs Festland vor. Wie soll er sich später Respekt verschaffen, wenn sein Leumund schon jetzt verdorben ist?“
Federico war es nicht gewohnt, dass man über ihn sprach, als wäre er nicht anwesend. Er sah ihn empört an. „Ich weiß schon, wie ich mir Respekt verschaffe!“
„So? Dann sprecht!“, forderte Markward ihn auf.
„Wer meinen Befehlen nicht folgt, den lasse ich ins Verlies werfen, auspeitschen oder henken!“
„Dann begeht Ihr den gleichen Fehler wie alle Herrscher, die nichts taugen: Ihr verwechselt Furcht mit Respekt. Eure Männer werden Euch folgen, weil sie Euch fürchten, aber sie werden hinter Euch kriechen wie geprügelte Hunde mit eingezogenem Schwanz. Und bei der ersten Gelegenheit verpissen sie sich in die Büsche. Wollt Ihr das?“ Er hob die buschigen weißen Augenbrauen und zuckte zusammen, als die die frisch genähte Wunde sich dabei verschob. „Wenn es Euch dagegen gelingt, dass sie Euch mit Achtung und Respekt begegnen, ja sogar mit Liebe, dann geben sie alles für Euch, im Ernstfall selbst ihr Leben.“
Federico schwieg mit vorgeschobener Unterlippe und Florent überlegte, ob Annweiler vielleicht gar kein Problem für den Jungen war, sondern eine positive Wendung des Schicksals. Erleichterung erfasste ihn, doch er nahm sich vor, auf der Hut zu bleiben.
„Hat Graf Gentile sich auch in die Büsche verpisst?“, fragte Federico.
Markward schmunzelte. „Aus meiner Sicht verhielt er sich wie ein guter Stratege. Er erkannte rechtzeitig, auf welche Seite er sich stellen muss und zog die Konsequenzen.“
„Aber welche ist die richtige Seite?“, hakte Federico nach.
Von Annweiler wiegte den Kopf. „Das ist eine der schwierigsten Fragen, die das Leben Euch stellt. Später werdet Ihr bestimmen, welche Seite die richtige ist. Das ist der Sinn der Macht. Aber bis dahin müsst Ihr viel lernen.“
Federico verdrehte die Augen. Diesen Satz kannte er zur Genüge.
Als sie den Raum verließen, fragte Florent: „Was ist mit Bella?“
Federico hob die Schultern. „Von Annweiler behauptet, es nicht zu wissen.“
„Dann suchen wir sie in der Bibliothek.“
Der Magister sprang hinter seinem Schreibtisch hervor, sein Gesicht rot vor Freude. „Federico, ich bin erleichtert, es geht dir gut. Aber Ihr, Florent, Ihr seht ein bisschen angeschlagen aus.“
„Ein treffendes Wort, Magister.“ Florent grinste schief.
Federico legte den Kopf in den Nacken und suchte die Oberkanten der Regale ab.
Franciscus sah ihm irritiert zu, dann begriff er. „Oh, du suchst den Vogel?“ Der Magister tippelte mit seinen kurzen Beinen von Regal zu Regal, um dem Jungen auf den Fersen zu bleiben. Er sah aus wie eine Krähe, die auf dem frisch gepflügten Acker nach Würmern sucht. „Ich hielt es für besser, ihn hier wegzubringen, nachdem er den Markgrafen verletzte. Ich fürchtete, der würde ihm den Hals umdrehen, wenn er seiner habhaft würde. Immerhin blutete er stark und wirkte, nun ja, sehr wütend und ganz bestimmt ...“
„Wo ist sie?“, fiel Federico ihm ins Wort.
„Der Küchenjunge half mir, ihn einzufangen. War nicht einfach, die Regale sind sehr hoch und der Vogel ängstigte sich sehr, und ich bin nicht mehr in der Lage, wie ihr sicher versteht ...“
Federico stampfte mit dem Fuß auf.
Franciscus legte den Finger an die Nase. „Dieser Junge, wie heißt er doch gleich? Der aus der Stadt, mit dem du dich herumtreibst ...“
„Emilio?“
„Der mit den dunklen Locken und den Zahnlücken, er hat den Vogel mitgenommen. Ich habe ihm gesagt, er soll ihn zu Signorina Luna bringen.“
„Dem Himmel sei Dank!“, sagte Federico voller Inbrunst. Für einen Moment sah es aus, als wolle er den Magister küssen. „Ich werde sie holen, sobald es dunkel wird.“ Längst hatte er vergessen, was der Markgraf nur kurze Zeit zuvor befahl: „Keine Eskapaden mehr in der Stadt! Die Leute müssen Euch und Eure Streiche vergessen, damit sie Euch in Zukunft respektieren. Ihr werdet in den nächsten Wochen den Palazzo nicht verlassen.“
Magister Franciscus klopfte auf seine Schreibtischplatte. „Ich schlage vor, wir zeigen guten Willen und beginnen mit dem Unterricht. Mir scheint, dein Reitlehrer braucht noch ein wenig Schonung.“
Federico nickte gönnerhaft, nichts konnte seine gute Stimmung trüben. Schicksalsergeben setzte er sich auf den bereitstehenden Hocker.
Als Emilio am Abend zuvor niedergeschlagen vor der Tür stand, um zu berichten, dass es kein Hineinkommen in den Palazzo mehr gab, fasste Luna schweren Herzens den Entschluss, die Stadt zu verlassen. Von Annweiler fegte mit hartem Besen, sie sah keine Möglichkeit, den beiden zu helfen.
„Sie haben die Schlupfpforte unter den Vorratskammern zugemauert. Das Tor ist von Deutschen besetzt, da kommt nur herein, wer einen triftigen Grund vorweisen kann“, berichtete Emilio.
Sie erzählte Lorna die Geschichte von Kaiser Heinrichs Tod, an dem sie zwar keine Schuld trug, gegen den sie aber auch nichts unternommen hatte. Dass sie damals Markwards Repressalien entrinnen konnte, lag nur an dem allgemeinen Durcheinander, wie es beim Tod eines Herrschers meist auftritt. Sie nutzten das Chaos, packten im Handumdrehen die Sachen und liefen zum Hafen. Nach wenigen Stunden fanden sie ein Schiff, das die kleine Familie nach Akkon brachte.
Lorna mümmelte nachdenklich. „Es ist besser, wenn du gehst. Ich komme zurecht, Liebes. Emilio wird mir helfen, das hat er versprochen. Er ist froh, wenn er seinem launischen Vater entwischen kann. Nimm die alte Römerstraße nach Messina. Dort setze über aufs Festland und schließ dich einem Händlerzug an. Kräuterfrauen werden gern mitgenommen.“
Luna fühlte sich elend. Sollte sie nicht doch bleiben und Florent helfen? Doch was konnte sie tun? Wenn sie Markward über den Weg liefe, landete sie höchstens im gleichen Verlies. Am Ende schadete sie ihm zusätzlich. Nein, es war besser, er würde nicht mit ihr in Zusammenhang gebracht werden. Sie schüttelte energisch den Kopf und hängte sich ihre Tasche auf den Rücken, drückte Lorna ein letztes Mal, nahm den Falken auf die Faust und trat vor die Tür.
Die Alte hatte ihr etliche Namen genannt von Menschen, die ihr weiterhelfen würden. Zusammen mit der Liste ihres Vaters ergab das eine ausreichende Versicherung entlang ihrer Marschroute. In den morgendlichen Straßen von Palermo zog sich die Dunkelheit gerade zwischen die Häuser zurück und wich einer milchigen Dämmerung. Noch waren nur Wasserträger und Dienstleute unterwegs, die am Stadtrand bei ihren Familien geschlafen hatten und zu ihren Herren eilten. Der Bäcker öffnete die Läden vor seinem Fenster und winkte ihr zu. Die Wachen am Stadttor musterten die Frau mit dem Falken neugierig, ließen sie jedoch ungehindert ziehen. Die Via Valeria führte am Meer entlang in Richtung Osten, der aufgehenden Sonne entgegen.
Sie hatten am Abend zuvor lange überlegt, ob sie Bella mitnehmen sollte.
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