Federico machte einen Satz nach vorn und sprang aus der Deckung, bevor Florent es verhindern konnte. „Sofort lasst Ihr den Mann in Ruhe! Was seid Ihr für ein erbärmlicher Feigling!“
Seine Stimme zitterte vor Wut und vermittelte doch Autorität, sodass es für einen Augenblick still wurde. Als Florent hinter dem Regal hervortrat, sah er eine Szene, die wie eingefroren schien. Der Magister saß mit weit aufgerissenen Augen in dem Stuhl, der von seinem Peiniger nach hinten gekippt und in dieser misslichen Lage gehalten wurde. Seine kurzen Beine hingen hilflos in der Luft. Der kräftige Mann mit weißem Haupthaar und einem Lederharnisch, der sich über den Magister beugte, wandte sein überraschtes Gesicht Federico zu. Der kleine König stand vor dem Schreibtisch und hielt den Falken wie ein Schutzschild vor sich.
Am Fenster entstand eine Bewegung, Florent drehte den Kopf und entdeckte einen weiteren Ritter, jünger als der Erste und mit unmissverständlicher Geste die Hand am Schwertgriff.
„Sieh an!“, sagte Markward endlich und richtete sich auf. „Wenn das nicht das Subjekt unserer Begierde ist!“
„Wenn Ihr ein Ritter seid, dann helft dem Magister aus seiner Lage!“, befahl Federico, ohne mit der Wimper zu zucken.
Von Annweiler richtete den Stuhl auf und klopfte dem Alten auf die Schulter, ohne ihn weiter zu beachten. Seine Augen waren starr wie die einer Schlange auf den Jungen gerichtet.
„Was wollt Ihr?“, fragte Federico.
„Euch, Majestät!“ Markwards Stimme war voller Triumph. Mit der schon etwas hölzernen Geschmeidigkeit eines alten Fuchses kam er um den Schreibtisch herum und musterte den Jungen. „Die Augen Eures Vaters, darin besteht kein Zweifel. Besonders königlich seht Ihr allerdings nicht aus. Es wird Zeit, dass sich jemand um Euch kümmert.“ Er trat einen kleinen Schritt zurück und deutete eine Verbeugung an. „Markward von Ancona, ich war der getreue Berater Eures Vaters, habe ihm gedient, bis er unglücklicherweise verstarb. Er hätte nicht gewollt, dass Ihr so vernachlässigt aufwachst.“
„Und das wollt Ihr jetzt ändern?“ Wer Federico kannte, hörte den Hohn in seiner Stimme.
„Ihr braucht eine ordentliche Ausbildung, standesgemäße Kleidung ...“, sein Blick wanderte abfällig über die Filzkappe und das zerrissene Hemd, „... und Unterricht im Geschäft des Regierens. Ihr werdet einmal über das gesamte Römische Reich Deutscher Nation herrschen, höchste Zeit, Euch darauf vorzubereiten.“
Jetzt platzte Florent der Kragen. „Was gibt Euch das Recht, hier einzudringen“, fuhr er dazwischen, „und zu glauben, Ihr könntet mir nichts, dir nichts, die Erziehung des Königs von Sizilien übernehmen? Nehmt Eure Männer und verschwindet!“
Markward riss die Augenbrauen hoch. Bisher hatte er den unbewaffneten Florent nur am Rande wahrgenommen. Es folgte ein kurzer Blickwechsel mit seinem Begleiter, dessen Hand am Schwertgriff lag und der sich augenblicklich in Bewegung setzte.
Federico überlegte nicht lange. Er zog seinem Falken die Haube vom Kopf, löste die kurze Fessel vom Handschuh und warf ihn Markward entgegen. Der Vogel, der plötzlich sehen konnte und sich gleich darauf in der Luft befand, kreischte überrascht auf und schlug dem Mann seine messerscharfen Krallen in die Kopfhaut, bevor er sich abstieß und panisch flatternd zwischen den Regalen verschwand.
Florent dachte bedauernd an das Schwert in seiner Kammer, als er den Jungen in Richtung Ausgang schob. „Lauf!“
Markward war hinter dem Schreibtisch in Deckung gegangen und hielt beide Arme über dem Kopf. „Diepold!“, brüllte er.
Florent und Federico rannten durch das Bücherlabyrinth zurück in Richtung Tür, dann die lange Balustrade entlang zur Treppe. Unten im Hof standen einzelne Gruppen von Bediensteten, die ihre Hälse reckten. Die zwei Flüchtenden erregten die Aufmerksamkeit von Markwards Vasallen, die zur Treppe eilten, um sie in Empfang zu nehmen. Einige Knechte stellten sich den Fremden in den Weg, doch die bewaffneten Männer schoben sie rüde beiseite. Florent suchte in Gedanken nach einem Fluchtweg oder Versteck, hinter ihnen polterte Diepold mit gezogenem Schwert die Stufen hinab, unten auf dem Hof sammelte sich ein gutes Dutzend von Markwards Rittern. Hoffnungslos.
„Federico, gib auf!“, rief er.
„Nein!“
Sie hatten inzwischen zwei Drittel der Stufen hinter sich, unten bildeten Markwards Männer eine undurchdringliche Mauer aus Harnischen. Auf einem Absatz des Marmorgeländers stand eine steinerne Vase, die in besseren Zeiten einmal mit Blumen bepflanzt gewesen war. Der Junge riss sie herunter, sie fiel der zurückweichenden Menge vor die Füße. Er nutzte den Augenblick und sprang mit einem behänden Satz seitlich über das Geländer hinweg. Ehe die Ritter sich besonnen, war er unterhalb der Treppe in einem der Zugänge zum Keller verschwunden. Florent sprang einen Augenblick später, doch nun reagierten die Männer. Als er unten aufkam, landete er mitten zwischen ihnen. Er riss dem ersten besten sein Schwert aus der Hand und drehte sich wie ein Kreisel. Doch gegen die Überzahl war er machtlos. Irgendwann packten ihn feste Hände und drückten ihn rücklings zu Boden.
„Wen haben wir denn hier? Seid Ihr der Patenonkel, oder was?“, fragte Diepold, der keuchend die unterste Stufe erreicht hatte. Er setzte Florent die Schwertspitze auf die Brust und brüllte über den Hof: „Wo immer Ihr seid, großer König von Sizilien, kommt heraus, wenn Euch das Leben Eures Begleiters lieb ist! Ich zerlege ihn sonst gleich hier in handliche Stücke.“
„Hör nicht auf ihn!“, rief Florent ebenso laut und flehte in Gedanken, der Bengel möge einmal auf ihn hören.
Markwards Scherge holte aus und trat ihm in die Rippen. Florent keuchte und das umstehende Gesinde murrte entrüstet.
„Was ist?“, schrie Diepold. „Kommt Ihr heraus? Am Boden liegt er bereits, ich muss ihn nur noch zerhacken.“
Florent versuchte, etwas zu rufen, doch der kräftige Tritt hatte ihm die Luft aus der Lunge gepresst. Mühsam rang er nach Atem. Aus dem Augenwinkel sah er die Filzkappe aus dem Kelleraufgang auftauchen. Er schüttelte heftig den Kopf, aber Federico starrte ihn trotzig an und marschierte direkt auf seinen Widersacher zu.
„Wer immer Ihr seid“, sagte er mit zittriger Stimme, aber voller Würde, „fürchtet den Tag, an dem ich volljährig bin und den Thron besteige.“
Diepold sah ihn verdutzt an, als wüsste er nicht, ob er lachen oder weinen sollte. Er entschied sich, zu grinsen, aber es sah irgendwie schief aus.
Markward kam die Treppe herab, er blutete aus einer tiefen Wunde auf der Stirn, auf den Kopfhaut zwischen seinen schlohweißen Haaren schimmerte ebenfalls Blut. „An Mut mangelt es Euch nicht, Majestät. Auch das habt Ihr von Eurem Vater. Ich schlage vor, wir setzen unser Gespräch fort, wenn wir uns alle ein wenig beruhigt haben. Bringt sie ins Verlies!“
Ein dunkelhaariger Junge lief durch die Gassen zum Hause des Kräuterweibes Lorna. Er klopfte kurz an ihrer Tür und wurde sofort eingelassen.
„Emilio! Was hast du erfahren?“ Luna zog ihn aus dem dunklen Flur in die etwas lichtere Kammer. Erst jetzt sah sie den behaubten Falken auf seiner Faust. Die glatten Federn auf dem Rücken glänzten, das helle Brustgefieder war herausfordernd aufgeplustert. Sie legte die Stirn in Falten. Wenn Bella nicht bei Federico war, bedeutete das nichts Gutes.
„Rede schon, was ist passiert?“, meldete sich die Stimme der Alten aus der Ecke.
Emilio genoss einen kurzen Moment die Neugier der beiden Frauen. „Als ich die Pferde abgab, sorgte das für gehörige Verwirrung unter den Wachleuten. Es waren Deutsche und sie erkannten die Tiere nicht. Ich wartete eine Weile, bis sie ihren Befehlshaber geholt hatten. Ich wollte schließlich eine Belohnung. Eine Zeit lang befürchtete ich, sie würden mich als Pferdedieb ins Verlies bringen, denn sie warfen mir misstrauische Blicke zu.“
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