Am selben Abend stellte mir mein Vater einen Teller mit Gemüseeintopf auf dem Tisch und setzte sich mir gegenüber. Er trank sehr viel Wein und wich mir jeglichen Blick aus, als ich zusah, wie er einen Becher nach dem anderen wegkippte. Er wirkte unruhiger wie sonst und starrte nachdenklich auf dem Boden, während er die Suppe löffelte. Ich fragte mich, was mit ihm los war und ich hatte das Gefühl, dass es wegen dieser jungen Frau war. Beinahe hätte ich ihn darauf angesprochen, denn das letzte was ich wollte war, wieder monatelang mit Fragen und Ungewissheit zu leben. Doch diesmal fiel es mir besonders schwer zu schweigen. Vielleicht weil ich älter geworden war und das Leben bewusster wahrnahm. Doch ehe ich nach so vielen Jahren endlich etwas sagen konnte, stand mein Vater auf und setzte sich – wie üblich – in seinem Sessel vor dem Kamin und starrte in die Flammen des Feuers, während er sich weiter mit Wein betrank. Auch ich gönnte mir zwei Becher von der süßen Sünde, um meinen Kopf frei zu kriegen, ehe ich die Leiter zu meinem Schlafgemach bestieg und auf das Dach starrte. Für einen kurzen Moment noch, ließ ich diesen merkwürdigen Tag Revue passieren, bis ich in den tiefen Schlaf versank. Noch ahnte ich nicht, welch‘ mächtige Auswirkung diese Begegnung mit der jungen Frau hatte - mein Vater stattdessen schon. Denn während ich seelenruhig schlief, nahm er mit zitternden Händen das gebundene Lederbuch zur Hand, welches meiner Mutter gehörte. Sanft strich er mit seinem Zeigefinger über das weiche Leder und seine Mundwinkel formten sich zu einem Lächeln, welches er jahrelang verloren hatte. Seit dem Tod seiner Frau hatte er das Buch versteckt und geheim gehalten, doch nun war ihm gewiss, dass es Zeit war, die Wahrheit aufzudecken.
Es war ein milder, bewölkter Frühlingsmorgen - daran erinnere ich mich genau. Wie üblich stand ich bei Sonnenaufgang auf und bekleidete meinen Körper mit einer braunen Stoffhose, einer langärmligen weißen Tunika und einem leichten Schaffellmantel. So verließ ich die Hütte und öffnete die Scheunentür, um nach den Schafen und den Jungtieren zu sehen. Sie waren alle wohlauf und ich ließ sie auf die Weide hinaus. Als ich auf das Tor blickte, musste ich wieder an die junge Frau und ihrem merkwürdigen Gesichtsausdruck denken. So sehr ich auch die Dorfbewohner verachtete – ich besaß eben auch einen gewissen männlichen Stolz und wollte dort keineswegs als Hirtenschreck verrufen sein. Wütend nahm ich zwei große Tongefäße aus der Scheune, um einige Schafe zu melken. Ich war voller Hoffnung auf andere Gedanken zu kommen, doch es ließ mich einfach nicht los, warum sich die junge Frau so schreckhaft von mir abgewandt hatte.
Die Sonne kämpfte sich inzwischen aus der Wolkendecke heraus und stand am höchsten Punkt des Himmels. Ich nahm die mit Milch gefüllten Tongefäße in die Hände und trug sie ins Haus hinein, wo ich meinen Vater erwartete, der sich bereit machen würde ins Dorf zu gehen. Doch die Feuerstelle war nicht entzündet und es fehlte jede Spur von ihm. Am gestrigen Tage war viel Wein geflossen, es hätte mich nicht gewundert, wenn er noch in seinem Schlafgemach gelegen wäre. So goss ich mir einen Becher der frischen Milch ein und aß etwas Brot mit Käse. Danach setzte ich mich hinaus auf die Weide und beobachtete die Schafe, welche sich mit dem saftigen Gras ihre Bäuche vollfraßen. Hin und wieder erwischte ich mich dabei, wie ich erneut zum Weidentor blickte. Immer wieder schüttelte ich energisch den Kopf und versuchte, sie aus meinem Gedächtnis zu löschen. Ich legte mich entspannt ins feuchte Gras und schloss die Augen, damit ich endlich abschalten könnte.
Am späten Nachmittag tröpfelten einige Regentropfen auf meine Nasenspitze. Ich öffnete die Augen und sprang sofort auf um die Schafe in die Scheune zu treiben. Als dies erledigt war, regnete es in Strömen und ich betrat die Hütte, welche noch immer nicht durch das angeschürte Feuer aufgewärmt war. Es machte mich langsam stutzig, dass Vater immer noch schlief. Mit durchnässter Kleidung näherte ich mich seiner Stube und lugte vorsichtig hinein. Als ich niemanden im Bett liegen sah, betrat ich sie und schaute mich um. All seine Gewänder, Lederstiefel und sein komplettes Hirtenequipment waren verschwunden. Auch die Schafwolldecken, in denen er schlief, lagen nicht mehr da wo sie einst waren. Dieser Raum war wie leergefegt, es sah so aus, als hätte hier niemand außer mir sonst gewohnt. Für einen kurzen Moment dachte ich daran, dass er mich verlassen haben könnte – doch hatte er einen Grund dazu? Er liebte seine Weide abgöttisch, warum sollte er sie mir einfach so überlassen? Nachdenklich befreite ich mich von der nassen Kleidung, bekleidete mich mit einer neuen Tunika, schürte ein Feuer und setzte mich mit einem Becher Wein davor. Ich fragte mich, ob er vielleicht ins Dorf gegangen war, um Geschäfte zu erledigen, doch noch nie hatte er sich so lange Zeit dort aufgehalten. Aus irgendeinem Grund ließ mich die Ungewissheit keine Ruhe, so sprang ich auf und verließ das Haus um in die Scheune zu gehen. Der Regen prasselte auf mich nieder, der Wind sauste stürmisch durch meine Haare. Ich öffnete die Scheune und sah nach, ob der Handwagen an seinem Platz stehen würde. Als ich ihn in der üblichen Ecke stehen sah, wusste ich gar nicht richtig, ob ich mich freuen sollte oder ich mir Sorgen machen müsste. Es stand zumindest fest, dass er nicht ins Dorf gegangen war.
Bis spät in die Nacht saß ich in seinem Sessel vor dem Feuer und betrank ich mich mit Wein, um den Gedanken zu verdrängen, dass er mich verlassen hatte. Auch wenn wir die letzten Jahre kein herzliches Verhältnis zueinander hatten, kränkte mich die Tatsache, dass er einfach so emotionslos gehen konnte. Dies war für mich wieder der klare Beweis, dass er ein Mann ohne Herz war, der seine Frau ohne Gewissen auf dem Scheiterhaufen sterben und seinen Sohn allein auf einer riesigen Weide mit dutzenden Schafen zurückließ. Es machte mich wütend, dass ich mich nach dem Tod meiner Mutter erneut auf ihn eingelassen hatte und nun wieder von ihm enttäuscht worden war. Wie konnte ich nur so naiv sein? Verkrampft saß ich vor dem Feuer und krallte meine Finger in den Becher, um meine Wut unter Kontrolle zu halten. Doch je mehr ich trank, umso stärker wurde sie und ich konnte kaum noch klar denken. Torkelnd stand ich irgendwann auf und lief noch einmal in seine Stube. „Du elendiger Hund!“ rief ich. „Du solltest dich schämen! Das Fegefeuer soll dich bestrafen, für all die Dinge, die du uns angetan hast! Leiden sollst du, Vater! Und zwar genauso, wie du uns hast leiden lassen!“ brüllte ich weiter und hickste dabei. Und plötzlich entdeckte ich es - das verstaubte Lederbuch, welches meine Mutter einst in den Händen hielt. Sofort stellte ich meinen Weinbecher auf Vaters Tisch ab und nahm das Buch in die Hand. Ich strich mit meinem Zeigefinger über das braune Leder und dessen aufwendig verzierten Ornamenten. Es war etwas eingestaubt, ansonsten sah es genauso aus, wie es Mutter damals vom Dorf mitgebracht hatte. Erst lächelte ich, weil ich mich freute, von ihr ein Erinnerungsstück zu haben. Doch dann wurde mir klar, dass es Vater all die Jahre von mir versteckt hatte. Enorme Wut brodelte in mir - so trank ich einen weiteren Schluck aus meinem Weinbecher und stieß mit voller Kraft mit meinem Stiefel gegen sein Bett. „Du Teufel! Wie konntest du es nur von mir verstecken?“ brüllte ich und schlug immer wieder gegen die Holzbeine. Doch das war keine Genugtuung für mich. Ich griff nach den Ecken des kleinen Holztisches und warf ihn mit voller Wucht um, so dass ein Tischbein abbrach. Ich stieß diesmal nicht nur mit meinem Fuß dagegen, sondern benutzte nun auch meine Fäuste, die rasend schnell auf das Massivholz prallten. Der Alkohol hatte mich so betäubt, dass ich gar nicht bemerkte, welch‘ tiefe Verletzungen ich meinen Händen zuzog und wie sehr sie bluteten. Erst nachdem das Zimmer vollkommen verwüstet war, fiel ich erschöpft auf die Knie und kauerte mich auf dem Boden zusammen. Es dauerte nicht lange, ehe mich der Alkohol in meiner Blutbahn in einem berauschenden Schlaf verbannte.
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