Wiederkehrende Träume – etwas, was wir vermutlich alle schon einmal durchgemacht haben. Die Klassiker unter ihnen sind Verfolgungsszenen, der Tod von geliebten Menschen oder Angst vor Prüfungen. Bei mir hingegen ist es etwas eher Ungewöhnliches. Jede Nacht träume ich von einem Steinkreis, irgendwo im Nirgendwo. Ich stehe direkt in der Mitte und starre auf zwei pechschwarze Raben, die auf dem höchsten Stein sitzen und mit weitaufgeschlagenen Flügeln auf mich hinabkrähen. Ich verspüre keine Angst, ganz im Gegenteil. Die Raben strahlen eine enorme Vertrautheit aus, die ich nicht beschreiben kann. Wie angewurzelt stehe ich da, bis sich alles um mich dreht. Und dann wache ich schweißgebadet auf.
Dies ist nun schon insgesamt 421mal passiert. 421 Nächte mit demselben Traum, was soll man darüber denken? „Vielleicht bist du einfach überarbeitet, Emma.“ war die Theorie meiner Freunde. Wohl kaum. Ich habe meine Arbeitsstunden sogar noch aufgestockt, damit ich erschöpft ins Bett falle und die Angst vor dem Einschlafen verschwinden würde. Doch dies hat auch nicht geholfen.
Nach 84 ärztlichen Untersuchungen ohne auffälligen, körperlichen Befund, fängt man langsam an, an seinen eigenen Verstand zu zweifeln. Die Ärzte sagen, ich sei gesund. Aber die Träume hören einfach nicht auf. Vor einigen Monaten habe ich dann angefangen, im Internet nach allen Steinkreisen dieser Welt zu suchen. Und plötzlich habe ich ihn gesehen: den Drombeg Stone Circle in Irland, von dem ich immer träume. Er existiert wirklich. Ich habe nicht lange gezögert und bin sofort in den Flieger nach Irland gestiegen, in der Hoffnung, endlich eine Antwort auf dieses allnächtliche Hirngespinst zu finden.
Und nun stehe ich hier, mitten im Drombeg Stone Circle in Irland, der zwischen grünen Hügeln und saftigen Wiesen eingebettet ist. Der nicht weit entfernte Küstenwind bläst durch meine langen, braunen Haare und ich drehe mich einmal um die eigene Achse. Es ist ein merkwürdiges Gefühl, an dem Ort zu sein, von dem ich schon 421 Nächte lang träume. Dass der Steinkreis als ein magischer Kraftort verrufen ist, kann ich tatsächlich spüren. Er besitzt 16 stehende und einen senkrecht liegenden Stein, der vor vielen Jahren als Opfertisch diente. Ich kann fühlen, dass sich an diesem Ort die unterschiedlichsten Dinge abgespielt haben. Gutes und Böses. Ich schließe die Augen und lasse die Magie des Steinkreises auf mich wirken. In diesem Moment höre ich ein aufgeregtes Krähen und mein Pulsschlag beschleunigt sich. Ich reiße die Augen auf und kann nicht glauben, was ich vor mir sehe. Die zwei Raben aus meinem Traum sitzen auf dem höchsten Stein und starren mich mit ihren zwei schwarzen Augen an. Anstelle von Furcht, strömt plötzlich eine innige Ruhe durch meinen Körper. Es ist so, als hätte ich auf diesen Moment schon so lange Zeit gewartet. Ich lächle die Raben erleichtert an und starre ihnen wie hypnotisiert in ihre Augen. Es war nicht überraschend, dass sich in dieser Sekunde alles um mich dreht. Wie angewurzelt stehe ich noch immer inmitten des Steinkreises und lasse die Karussellfahrt ihren Lauf, bis ich alles blitzartig verschwommen sehe und mich die Dunkelheit verschlingt.
„Gesegnet sei unsere Heimat. Amen.“ sprach der Priester und beendete - wie üblich - mit diesen Worten den Gottesdienst, während das Volk leise die Kirche verließ. „Primrose!“ hörte ich den Mönch flüsternd rufen, als ich gerade dabei war, mich der Menschenmasse anzuschließen. Er kam auf mich zu und nahm mich in den Arm. „Sei gegrüßt, Keiron.“ Ich freute mich ihn zu sehen. „Meine Liebste, mir kam zu Ohren, dass du letzte Nacht bei der Geburt von Lord Colmans ersten Sohn dabei warst, ist es wahr?!“ Ich sah in sein altes, faltiges Gesicht und antwortete ihn schließlich: „So war es. Lord Colman hatte mich gebeten, bei der Geburt seines Kindes beizustehen!“ „Oh Primrose, das ist wunderbar!“ flüsterte er voller Begeisterung. Ich lächelte. „Wenn sich dies bei den Völkern herumspricht, dass Lord Colman eine junge Heilerin bei sich ließ, könntest du nach England gehen und wohlmöglich Heilerin des Königs sein. Gewiss wirst du dort ein wohlerhabeneres Leben haben, als hier!“ Der alte Mönch schien ganz aufgeregt zu sein und ich berührte seine zitternden, kalten Hände. „Ganzgleich wie es auch kommen wird, mein lieber Keiron. Du weißt, dass mein Schicksal vom Herrn bereits besiegelt wurde. Er wird mich auf den rechten Weg weisen.“ Ich lächelte ihn noch einmal an, ließ seine Hände los und verließ mit meinen Flechtkorb in der Hand die Kirche. Ich bedeckte meinen Kopf mit der Kapuze meines braunen Stoffumhangs und lief entlang der vielen Hütten, bis ich am Ende der Festung angekommen war. Ich durchquerte die Tore und steuerte auf den dichten Wald zu. Der Wind wirbelte mein langes, dunkelgrünes Kleid auf und ich konnte fühlen, dass der Winter bald einbrechen würde. Verträumt atmete ich tief ein und roch den vertrauten Geruch von Tau und Moss. Ich folgte den schmalen Bach, der sich durch den Wald zog und lief so lange, bis ich nur noch das Plätschern der leichten Strömung hören könnte. Dann kniete ich mich nieder, entnahm aus meinem Korb zwei Kelche und füllte sie mit dem glasklaren Wasser. Danach sammelte ich Moos, pflückte Weißdorn, Eisenkraut, Wurzeln und andere nützliche Pflanzengeschöpfe, die ich in meiner Hütte weiterverarbeiten konnte. Mit großzügig gefüllten Korb dieser Heilkräuter, berührte ich mit meiner Hand die raue Oberfläche eines Eschenbaumes, schloss die Augen und sprach: „Erhöre mich, Herr. Sei nicht zornig, was ich Euch nahm. Das Leben meines Volkes sei damit gesegnet.“ Ich küsste den Baumstamm und ließ ihn los. Ein plötzlicher, kräftiger Windstoß ließ meinen Umhang tanzen, ich bemerkte, wie sich ein großer Vogelschwarm aus den Baumkronen erhob und flüchtig gen Himmel flog. Ich sah den Vögeln hinterher und kniff nachdenklich die Augen zusammen. Irgendetwas war anders als sonst. Der Wald wirkte unruhig, es schien mir, als würde bald ein Sturm aufziehen. Demnach beschloss ich, mich lieber auf den Weg zurück zur Festung zu machen.
Schon kurz bevor ich meine Hütte erreichte, fing es an zu regnen. Ich hatte Glück, das der Korb mit samt Heilkräuter nicht allzu nass geworden war. Sofort schürte ich ein kleines Feuer und wärmte mich daran auf. Ich lauschte nun nicht mehr den angenehmen Klängen des Waldes, sondern den lautstarken Geräuschen meines Volkes. Kinder, die sich kichernd an den Pfützen des Regens vergnügten, ächzendes Vieh das sich weigerte in den Stall zu gehen oder hysterisch vorbeirennende Menschen, die nach Unterschlupf suchten. Nachdem es gewaltig donnerte, malte ich mir aus, wie sich die Kinder ängstlich in die Arme ihrer Eltern schmiegten. Ein Gefühl der Sicherheit, welches ich schon lange nicht mehr verspürte. Meine Augen füllten sich mit Tränen, als ich an meine Eltern dachte, die qualvoll an Fieber litten. Der weise Keiron stand mir jeden Tag bei und versuchte sie zu heilen, doch sie waren bereits zu schwach um zu überleben. Noch bevor meine Mutter für immer ihre Augen schloss, versprach Keiron für mich zu sorgen und erfüllte so ihren letzten Wunsch. Er konnte mich zwar nicht ins Kloster mitnehmen, doch er kümmerte sich stets liebevoll um mich und lehrte mich das Lesen und Schreiben. Ich wünschte mir, eine wahrhafte Heilerin zu werden, um anderen Menschen vom Leid zu erlösen. Und durch Keirons Wissen und Fähigkeiten konnte ich mir diesen Wunsch erfüllen.
Während ich in Erinnerungen schwelgte, konnte ich hören, dass der Regen langsam weniger wurde. Der zornige Wind jedoch peitschte gegen die Hütte und jaulte durch die Schlitze. Trotz alledem wurden meine Augen schwer und es dauerte nicht lange, bis mein Körper zu Boden sank und ich in den Schlaf versank.
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