Obwohl sich die Unterhaltung gerade erst entwickelt hatte, zog sich Merizadi plötzlich wieder von ihm zurück, indem sie auf einen untersetzten, schwarzhaarigen Mann mit dichtem Vollbart und runder Brille wies und meinte:
„Ich werde ein paar Takte mit einem Kollegen reden. Ich würde mich freuen, wenn wie unsere Unterhaltung später fortsetzten könnten.“
So überraschend wie die Ankündigung kam, so schnell verschwand sie an der Seite des Mannes, der durch seinen schwarzen Bart und seine Nickelbrille wie ein arabischer Universitätsprofessor aussah, aus dem Saal.
Er war wieder allein und fiel erneut an das Ende der Gruppe zurück, während Mayfield seine Führung durch das UN-Gebäude fortsetzte. Er ging dabei sehr gewissenhaft und gründlich vor, da er offenbar nicht vorhatte, auch nur einen einzigen der übrigen Räume und Säle auf seinem Rundgang auszulassen. Mo beobachtete immer wieder verstohlen, wie sich Merizadi mit dem schwarzhaarigen „Professor“ angeregt unterhielt. Obwohl er sie noch gar nicht kannte, fühlte er fast so etwas wie Eifersucht, nachdem sie ihm nach dem kurzen, aber intensiven Gespräch so plötzlich und unvermittelt ihre Aufmerksamkeit entzogen hatte.
Auf der langen Führung stellte sich bald Langeweile ein und sein Interesse erwachte erst sehr viel später wieder, als sie einen wichtigen Hauptsaal betraten: Es war der Saal, in dem die UN-Generalversammlung zusammenkam. Sein Wahrzeichen, die markante, riesige Kuppel, die das Gebäude nach außen sichtbar überragte, verlieh ihm etwas von dem Charakter eines Sakralbaus. Der Eindruck wurde durch die Sitzreihen verstärkt, die eine gewisse Analogie zu Kirchenbänken aufwiesen, sowie durch das riesige UN-Emblem, das an der Stirnseite des Saals von einer großen, goldenen Fläche umschlossen wurde. Der Tisch mit den drei Plätzen für die Vorsitzenden der Versammlung, der sich direkt am Fuß der goldenen Fläche befand, bekam in Mos Wahrnehmung Ähnlichkeit mit einem Altar, auf dem die große Idee der weltweit geeinten Nationen gleichsam religiös zelebriert wurde.
Er bekam keine Gelegenheit, den eindrucksvollen Raum weiter auf sich wirken zu lassen, weil er Dr. Timothy Goldsworthy an der Seite eines untersetzten, dicken Mannes den Saal betreten sah. Als Goldsworthy ihn erspähte, steuerte er direkt auf ihn zu und dirigierte dabei den Anderen lebhaft redend und gestikulierend neben sich her. Im Vergleich zu dem extravaganten, modisch gekleideten Goldsworthy, dessen Bewegungen an die eines stolzen Pfaus erinnerten, wirkte sein schwarzhaariger, südamerikanisch aussehender Begleiter durch seine würdige Haltung und seine aufgeräumten Gesichtszüge wie ein durch und durch seriöser Kerl.
„Dr. Morris, was für eine Freude Sie hier zu sehen!“, wurde er bald von Goldsworthy mit einer etwas künstlich wirkenden Überschwänglichkeit begrüßt. Dabei hielten sie sich im Eingangsbereich des Saales auf und wurden von einigen aus der Gruppe neugierig beäugt. „Ich war mir nicht ganz sicher, ob Sie meiner Einladung hierher wirklich folgen würden. Ich hatte schon die Befürchtung, Sie könnten sich zu dem Abenteuer nicht entschließen, da es einige Entbehrungen mit sich bringt. Ein Luxusleben können wir Ihnen auf Ihrer Reise in der UN-RN natürlich nicht bieten.“
„Da kennen Sie mich schlecht. Wenn ich sage, ich komme, komme ich!“, versicherte Mo mit einem Ton heiliger Überzeugung, der ein freundliches Grinsen in die Gesichter der Männer treten ließ.
„Natürlich, natürlich, ich scherze ja bloß. Sie hatten ja den Vertrag unterschrieben. Es war übrigens eine sehr spontane Idee, Sie zu engagieren. Wie sagt man doch: Ungewöhnliche Aufgaben erfordern ungewöhnliche Menschen. Die Idee kam uns, nachdem jemand anderes kurzfristig ausgeschieden ist. Ich möchte Ihnen Carlos Lozano vorstellen. Er ist der Präsident des UN-Treuhandrats. Sie haben Glück, nicht jeder lernt ihn persönlich kennen!“
Als Mo Lozanos kräftige Hand schüttelte, spürte er intuitiv sofort, dass er einen grundehrlichen und integren Mann vor sich hatte. Die Sympathie schien beidseitig zu sein, da ihn Lozano mit ausgesprochener Freundlichkeit begrüßte.
„Ich habe einiges von Ihnen gehört, Dr. Morris, und freue mich sehr über Ihre Teilnahme an unserer Operation. Wenn Sie bei diesem Fall auch nur halb so erfolgreich wie bei Ihrem letzten sind, wäre für uns das Meiste schon gewonnen. Eine große Belohnung kann ich Ihnen allerdings nicht versprechen. Wie man hört, scheinen Sie Geld auch gar nicht mehr unbedingt nötig zu haben.“
„Geld ist nicht alles auf der Welt. Die Ehre, für eine Organisation wie die UN zu arbeiten, ist ja eigentlich schon Bezahlung genug. Obwohl es ja immer auch sehr viel Kritik an ihr gegeben hat…“
Mo biss sich auf die Zunge, da seine Bemerkung beinahe an einen diplomatischen Fauxpas grenzte. Es war nicht gerade der richtige Moment, auf Kritik an der UN zu sprechen zu kommen, wenn man das erste Mal im Leben einen derart hohen UN-Repräsentanten traf. Es war zu spät, denn Lozano hakte sofort voller Neugier nach:
„An welche Art von Kritik dachten Sie genau? An allem, was groß ist, wird auch immer viel kritisiert. Das ist eigentlich ganz normal.“
Seine Freundlichkeit ließ um keinen Deut nach und er schien an einer ehrlichen Antwort aufrichtig interessiert zu sein. Seine unerwartete Offenheit reizte Mo dazu, mit dem dunkelsten Aspekt herauszurücken, der ihm spontan einfiel.
„Wie ich hörte, wurde das Gelände des UN-Hauptquartiers von einer alt bekannten Familie gestiftet. Der Name dieser Familie ruft Assoziationen an bestimmte elitäre Zirkel hervor. So sollen etwa gewisse Freimaurerkongregationen, die den alten Traum von einer neuen Weltordnung und einer Eine-Welt-Regierung noch nicht aufgegeben haben, die UN als ein sehr geeignetes Vehikel für die Erfüllung ihrer Träume sehen…“
Lozano war zu klug, um sich gänzlich naiv zu geben, und so ließ er ein verstehendes Lachen hören und versicherte sofort:
„Ich weiß genau, worauf Sie anspielen, glauben Sie mir. Es kursieren einige Theorien in dieser Richtung, die manche auch Verschwörungstheorien nennen. Ich persönlich weiß sogar, dass einige Aspekte dieser Theorien nicht ganz unberechtigt sind. Allerdings darf ich Sie beruhigen: Ich bin überzeugt, keine Geheimgesellschaft der Welt wird jemals einen solchen Einfluss erlangen, dass sie eine globale Institution wie die UN unterwandern kann. Überhaupt halte ich persönlich es für unmöglich, diese Welt jemals zu einen und eine einzige Weltregierung aufzubauen. Auch wenn sich der Begriff Einigung grundsätzlich positiv anhört, bin ich sicher, dass eine solche einheitliche Weltregierung niemals in der Lage wäre, den Bedürfnissen all der verschiedenen Menschen in all den verschiedenen Erdteilen auf angemessene und demokratische Weise gerecht zu werden.
Obwohl die Gründung supranationaler Vereinigungen im beginnenden dritten Jahrtausend im Trend zu liegen scheint – die EU ist eines der deutlichsten Beispiele dafür – glaube ich nicht, dass sich dieser historische Trend langfristig als vorherrschende Staats- beziehungsweise Regierungsform durchsetzen wird. Ich erinnere Sie: Die Sowjetunion, eine der größten Staatenbünde überhaupt, zerfiel, bevor die EU ihre Grenzen niedergerissen und den Euro eingeführt hat. Länder und Nationen, Staatenbünde und Organisationen entstehen und vergehen und entstehen wieder neu. Die Geschichte, wie wir sie momentan erleben, zeigt uns fast nichts, was es nicht schon einmal gegeben hätte. Auch Währungsunionen hat es schon lange vor dem Euro gegeben. Wir alle erleben nur einen winzigen Ausschnitt aus der großen Weltgeschichte und nehmen uns meiner Ansicht nach viel zu wichtig dafür.
Ich persönlich wäre schon zufrieden, wenn sich eine Vereinigung wie die UN weiterhin über einige Jahrhunderte halten könnte und erfolgreich die Aufgaben erfüllen würde, für deren Erfüllung sie gegründet worden ist: Kriege verhindern, den Frieden festigen, befreundete und befeindete Nationen an den Verhandlungstisch holen, die Einhaltung der Menschenrechte sichern und jeden Ausbruch von Barbarei so schnell wie möglich im Keim zu ersticken.“
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