1 ...7 8 9 11 12 13 ...21 „Darf ich dir etwas mitbringen?“, fragte er mit einer betonten, ironischen Höflichkeit, die seine Lernwilligkeit bezüglich seiner neuen Rolle als braver und aufmerksamer Ehemann zum Ausdruck bringen sollte.
„Uns bleiben genau zehn Tage Zeit, Ihnen in einem Crash-Kurs Manieren beizubringen und Ihnen Ihren Junggesellen-Egoismus auszutreiben. Ich hätte gern einen Kaffee und ein Käsesandwich, mehr nicht.“
Die trockene Ironie, die aus ihren Worten sprach, rief als Antwort ein gequältes Lächeln bei ihm hervor. Als er nach einiger Zeit das Gewünschte an den Tisch brachte, setzte sie ohne weitere Umschweife dazu an, ihn über das Bevorstehende näher aufzuklären.
„Sie wissen ja, wie es in etwa weitergeht. Wir werden eine Reihe von Vorbereitungsseminaren absolvieren, bevor unsere Mission starten kann.
Wir reisen in den Teil der UN-RN, der als ihr Hauptzentrum gilt und mitten im Herzen Europas in einem Dreiländereck liegt. Das Gebiet befindet sich im Gebiet des Aostatals im nordwestlichen Zipfel Italiens in unmittelbarer Nähe zur Schweiz und zu Frankreich. Die Staatsgrenzen verlaufen über die Gipfel der Alpen. Die Nähe zu Genf mit seinen zahlreichen UN-Institutionen ist selbstverständlich kein Zufall. Die Luftlinie beträgt nur rund 50 Meilen. Aus diesem Grund wurde dieses Gebiet von Anfang an als Hauptverwaltungszentrum der UN-RN angelegt. Es ist etwa 22 Quadratkilometer groß und 80 Prozent seiner Fläche bestehen aus einem Ort, der quasi als die Hauptstadt der UN-RN gilt. In ihr wohnen bis zu maximal 25 000 Flüchtlinge und 800 UN-Mitarbeiter. Sie wurde UN-City getauft, woraus sich im täglichen Sprachgebrauch später der prägnante Spitzname Unity entwickelt hat. Diese Name wird sowohl für den Ort wie für das ganze Gebiet verwendet.“
„ Unity …“, wiederholte er nachdenklich. „Klingt interessant und viel versprechend, meine ich! Ich nehme an, der Name soll an die Einheit aller Menschen und Nationen erinnern?“
„Natürlich, eine mehr als nahe liegende Interpretation… In der Zeit, als ich noch in Genf tätig war, war ich häufig im Auftrag des UNHCR dort, um mir ein Bild über die Situation der Flüchtlingsfrauen vor Ort zu machen. Damals befand sich das Gebiet gerade im Aufbau, doch seitdem hat sich viel verändert.
Sie haben ja in den nächsten Tagen noch genug Zeit, sich selber alle nötigen Informationen zusammenzusuchen. Wenn alles nach Plan verläuft, werden wir in etwa 14 Tagen Greg McGregor, den Leiter von Unity, in Italien treffen. Er ist Engländer und ist schon lange für die UN tätig. Ich kenne ihn von früher und er wird uns persönlich instruieren.“
Sie hielt inne und schaute sich um. Einige der Anderen waren bereits mit dem Essen fertig und verließen die Cafeteria, da der Termin für das Vorbereitungsseminar auf sie wartete. Dann meinte sie in abschließendem Ton:
„Laut Plan werden wir also als Flüchtlingspaar nach Unity reisen. McGregor hilft uns dabei und versorgt uns mit den nötigen Papieren. Der Auftrag scheint auf den ersten Blick nicht gefährlich zu sein, aber noch weiß keiner, was uns alles erwarten wird. Im besten Fall wird es nur ein kleines Abenteuer sein, das ein erfahrener Mann wie Sie auf der linken Pobacke absitzen kann.“
Mo lachte und wurde plötzlich von einer spontanen und sehr unvernünftigen Emotion ergriffen. Er nahm Merizadis zierliche Hand, zog sie in Richtung seines Mundes und deutete ganz altmodisch einen Handkuss an. Dabei setzte er eine unterwürfig wirkende, komische Miene auf und meinte mit einem ironischen Grinsen:
„Kleines Abenteuer? Ich bin sicher, an Ihrer Seite werde ich jede Art von Abenteuer bestehen, Sofia…“
Sie wollte protestieren, ließ es dann aber sein und verdrehte bloß kopfschüttelnd die Augen. Der Mann, der auch unter dem Spitznamen „Inspector Mo“ bekannt war, hatte manchmal einen ziemlich schrägen Charme, aber man konnte ihm einfach nicht böse sein…
Als er den Wagen auf dem Parkplatz eines einsam gelegenen italienischen Berghotels zum Stehen brachte, hatte er noch immer die Worte eines gewissen „Rick van de Loo“ in den Ohren. Er und Sofia hatten van de Loo nachmittags im Hauptsitz des UNHCR in der Rue de Montbrillant in Genf getroffen und ein kurzes, aber wichtiges Gespräch mit ihm geführt. Obwohl das holperige Englisch des Niederländers mit einem starken Akzent durchzogen gewesen war, war die Botschaft seiner Worte ziemlich klar gewesen: Der Fall, dessentwegen man sie aus den USA hergerufen hatte, war potentiell erheblich größer und komplizierter, als man es ihnen während der Vorbereitungsphase in New York dargestellt hatte. Van de Loo, der einer der Stellvertreter des hohen Flüchtlingskommissars war, war nicht sehr viel konkreter geworden und hatte alles Weitere einfach auf Greg McGregor, den Leiter der „UN-City“, geschoben.
Mo und Sofia blinzelten beim Verlassen des Wagens müde in die tief stehende Sonne, die in diesem Moment die letzten Strahlen über die Berggipfel schickte. Es lag ein langer und ereignisreicher Tag hinter ihnen, der sie nach einer Reihe von Gesprächen in Genf auf den Weg nach Italien geführt hatte. Ihr Ziel, ein ehemals dünn besiedeltes Seitental, das in unmittelbarer Nähe des Mont-Blanc-Tunnels begann und sich nach einigen Kilometern in nordöstlicher Richtung wie eine große Sackgasse an den Ausläufern mächtiger Alpengipfel verlor, hatte seit der Gründung der UN-RN einen beispiellosen Aufschwung erlebt. Die schmale Straße, die noch vor wenigen Jahren ins Nirgendwo geführt hatte, war auf ihrer gesamten Länge eine Baustelle, da die vielen Flüchtlingsbusse und der Ausflugsverkehr neugieriger Touristen eine Verbreiterung dringend nötig gemacht hatte. Die großen, blauen Schilder mit dem UN-Symbol, auf denen in regelmäßigen Abständen „UN-City in the UN-Refugee Nation“ mit einer Kilometerangabe abzulesen war, wirkten wie die Vorboten einer gänzlich anderen Welt; es war eine Welt, die in dem schmalen, von gewaltigen Bergmassiven umschlossenen Talkessel ein geschütztes Refugium mitten im Herzen Europas gefunden hatte. Die geographische Lage war ideal, auch wenn die sich ringsherum auftürmenden Berge und die auf ihren Gipfeln verlaufende französische und schweizerische Grenze die „UN-City“ zu einem abgeschirmten und eingeschlossenen Ort zu machen schienen.
Sie schlenderten den großen, bekiesten Parkplatz des Berghotels hinunter und schauten sich neugierig die herumstehenden Autos an, die vor allem italienische, französische, schweizerische und deutsche Kennzeichen trugen. Das Hotel, das ein beliebtes Ausflugsziel war, lag auf 1600 Meter Höhe etwas abseits von der sich durch das Tal schlängelnden Hauptstrasse am Fuß eines bis zu halben Höhe bewaldeten Bergmassivs und erlaubte einen weiten Panoramablick. Es war der letzte Gasthof auf italienischem Gebiet, bevor man in etwa zwei Kilometern auf die Grenze der UN-RN traf. Es hatte die Architektur eines typischen Bergchalets, dessen untere beide Stockwerke aus massiven Felssteinen bestanden, während das holzverkleidete Obergeschoss von einer aufwändigen Dachkonstruktion aus dicken Balken und schweren Schieferplatten gekrönt wurde.
Sofia sah in ihren zierlichen Schuhen und ihrem schlichten, grauen Kostüm noch immer genauso aus, wie während ihres zweitägigen Aufenthaltes in Genf. Die Verwandlung, die sie beide zu zwei Flüchtlingen machen würde, hatte noch nicht stattgefunden, aber stand nun unmittelbar bevor. Sie beklagte sich stöhnend über die Kälte und blieb dann plötzlich vor einem weißen Mercedes-Geländewagen älteren Baujahres mit Genfer Kennzeichen stehen, der einen großen, blauen UN-Aufkleber auf seiner Kofferraumklappe trug.
„Das muss Gregs Wagen sein!“, rief sie freudig aus und beschleunigte ihren Schritt in Richtung des Hoteleingangs. Mo verzog missmutig seine Miene. Die Art, wie sie die ganze Zeit von „Greg“ sprach, nervte ihn bereits jetzt. Auf der Fahrt hatte sie ihm voller Enthusiasmus den gesamten Werdegang des Engländers erzählt und unablässig über seinen unermüdlichen Einsatz für die Belange der Flüchtlinge und den Aufbau von „Unity“ geschwärmt. So wie sie es dargestellt hatte, war er quasi ein Heiliger, dem die meisten anderen Menschen nicht im Mindesten das Wasser reichen konnten. Überhaupt störte ihn der Ton inniger Vertrautheit, mit dem sie von Anfang an über andere UN-Mitarbeiter sprach, so als formten sie alle eine große, weltweite Familie - eine Familie, der er natürlich nicht angehörte.
Читать дальше