Die Idee, sich mit Askim und seinen Leuten einzulassen, war nicht seine beste gewesen. Vor allem nicht, weil er von Anfang an vorgehabt hatte, sie abzuziehen. 25 000 Euro hätte ihm die Nummer eingebracht. Abzüglich der dreitausend, die er den Bikern in Roermond für die Tüte echten Stoffs schuldete, war es das wert gewesen. Er stolperte und wurde hochgezogen. Irgendwas geht immer, hämmerte er sich ein, während er weiter das erste Teilstück der Himmelleiter hochgeschubst wurde. Vor ihm Askim und sein Adjutant Hassan, hinter ihm Bingo und Bongo, die schon jetzt ihren Spaß hatten.
Die Millicher Halde war Stein und Schotter gewordene Bergbaugeschichte. Das, was die Kumpel im Laufe von nicht einmal 90 Jahren aus der Erde geschaufelt hatten, um an die begehrte Kohle zu kommen. Im Laufe der Jahre begrünt und bewaldet war die Halde nun auf dem Weg, ein Stück des touristischen und Naherholungsangebotes der Stadt Hückelhoven zu werden. Vom Parkplatz aus hatten sie den Anstieg über die Himmelstreppe begonnen. Ein viel zu schöner Name für das Metallgestell, das außen an der alten Abraumhalde hoch führte zur Aussichtsplattform, von der aus man bei gutem Wetter einen guten Blick ins Land hatte. Sogar das neue Stadion der Mönchengladbacher Borussia konnte man sehen.
Die ersten fünfzig Stufen auf dem Weg zur Aussichtsplattform lagen hinter ihnen. Sein verschwommener Blick schweifte über die Bäume und Büsche, die nun auf der Halde wuchsen und zur Fremde kaum noch erahnen ließen, dass es sich hier nur um den Abraum von weniger als einem Jahrhundert Bergbau handelte. Die Halde war zu Zechenzeiten abgesperrt und ein weißer Fleck auf der Stadtkarte von Hückelhoven. Die Millicher hatten sich wüste Sachen erzählt, die die Bergbaubosse oben auf der Halde veranstalten würden und hatten das Gelände jahrelang als wilde Müllkippe genutzt. Ganze Wohnungseinrichtungen und zerlegte Autos waren hier entsorgt und irgendwann zu einem überwucherten Teil der künstlichen Landschaft geworden. Die holländischen Lumpenhändler hatten das Areal kurz nach der Freigabe für die Öffentlichkeit durchpflügt und manchen wertvollen Fund abtransportiert. Er fragte sich, wie lange es dauern würde, bis man ihn finden und wie er dann aussehen würde. Sein Axe würde sicher nicht so lange reichen, obwohl er sich großzügig damit eingesprüht hatte, weil er vor Angst einen ganz sauren Körpergeruch abgesondert hatte. Oben auf der Halde würden sie ihn töten. Wie passend. Ihn, den ehemaligen Bergmann, der seine besten Jahre auf der Zeche und unter Tage verbracht hatte, würden sie auf dem Gipfel des Abraumberges töten, zu dessen Entstehen er, sein Großvater, sein Vater und seine beiden Onkel bestimmt einige Meter beigetragen hatten. Etwas wehmütig dachte er an seine Kindheit im Schatten der Fördertürme. Bergmann in dritter Generation hatte er werden wollen. Doch dann hatte die Zechenschließung den Plan vereitelt. Vorher hatte er schon ein wenig Kontakt zur heimischen Unterwelt gepflegt. Doch ab dann war es schlagartig bergab gegangen. Ein wenig Dealen hier, ein paar Brüche dort, mal Schmuggel im Auftrag seiner Geldgeber. Er hatte eine ziemlich erbärmliche Karriere hingelegt – und sich dabei auch noch wie eine ganz große Nummer gefühlt. Klar, er war Anfang 30 gewesen, als sie ihn mit einer Abfindung auf die Straße gesetzt hatten. Und bereit zu allem. Schnell hatte er seinen Spitznamen weg: Joker. Wenn einer bekloppt genug ist, das zu machen, dann der Joker, hatten die schweren Jungs in den einschlägigen Kneipen gesagt und er hatte es auch noch als Kompliment empfunden. Bis er zum ersten Mal eingefahren war. Nicht in den Stollen, aber in die JVA. 14 Monate wegen Einbruchs. Als er rauskam, war seine Frau Biggi mit Jessica und dem letzten Ersparten über alle Berge. Egal, irgendwas geht immer, hatte er sich gesagt und seine Bemühungen, ein passabler Kleinkrimineller zu werden, noch intensiviert. Askim und seine halbseidene Truppe hatte er schon früher kennen gelernt. Und weil sie ihm vertrauten – so dachte er zumindest – waren sie die idealen Opfer, um ausgenommen zu werden. Das war wohl nichts. Und jetzt würden sie ihn oben fertigmachen. Hoffentlich würde es schnell gehen. Aber Askim war abartig genug, um seinen Spaß zu haben, wenn es ein wenig länger dauern würde. Und Bingo und Bongo waren brutal und bekloppt genug, um ihrem Chef sicherlich eine gute Show zu bieten.
Dabei kannte er diesen Askim schon, seit er ein kleiner Türkenjunge in Doveren gewesen war. Immer eine Rotznase, die Haare strubbelig und einen frechen Blick. Er hatte ihn früher ab und zu gesehen, wenn er Ali nach Hause gebracht hatte. Ali war Askims Vater und schon lange tot. Er konnte sich erinnern, dass er auf dem abgetretenen Rasen vor dem Mietshaus mit dem Kleinen Fußball gespielt hatte. Ali hatte Lammkoteletts auf den Grill geworfen und die Nachbarn hatten laut die Fenster zugeknallt. Schon wieder der Gestank nach Ziegenfleisch. Ali hatte gelacht und seine Frau hatte frischen Salat in einer großen Schüssel aus dem Haus getragen, bevor ihn der Gummiball mit dem Logo der Bergbaugewerkschaft an der Stirn traf. Er hatte den Jungen gesehen, der wie wild herumhüpfte und sich über seinen Schuss freute, und er hatte gelacht. Dann kamen der verdammte Tag im Herbst und das Unglück mit dem verdammten Förderkorb beim verdammten Schacht 3. Wer hätte auch ahnen können, dass die Blockiervorrichtung ausgerechnet in dem Moment ihren Geist aufgeben würde, als er den Aufzugshebel bediente, um die Kumpels hochzuholen. Das Gefühl würde er nie vergessen, als der Hebel klemmte und gleichzeitig der Luftzug des herunterstürzenden Förderkorbs ihn frontal traf. Auch Ali wurde frontal getroffen, jedoch vom Förderkorb. War nicht viel von ihm übrig geblieben, als sie endlich den Korb weggeräumt hatten. Jeder in der Schicht hatte gewusst, dass es seine Aufgabe gewesen wäre, den verdammten Korb und seine Funktionstüchtigkeit zu überprüfen. Und er hatte es auch immer getan, bis auf dieses eine Mal. Dieses eine verdammte Mal, das Ali das Leben und seinem Kumpel Hacki den rechten Arm gekostet hatte. Der kleine Askim war damals gerade zehn, wenn überhaupt. Er hatte ihn nur noch einmal gesehen, bei der Trauerfeier für Ali. Den Blick, den der Kleine ihm zugeworfen hatte, hatte er zu vergessen gesucht. Und trotzdem war er jeden Tag wieder da gewesen. Dieser verdammte Blick. Er war selbst noch ein junger Kerl gewesen, gerade erst ein paar Jahre auf der Zeche beschäftigt. Und er hatte weitergelebt, sie hatten ihm ja nichts beweisen können, weil er das Wartungsprotokoll gefälscht hatte. Dann hatte er ein paar Wochen auf Psyche krankgefeiert und dann so getan, als ob nicht passiert wäre. Irgendwann wächst Gras selbst über die übelsten Schweinereien. Warum er für seinen großen Coup dann ausgerechnet Alis Sohn und dessen Jungs ausgesucht hatte, konnte er sich selbst nicht erklären. Sie hatten ihn magnetisch angezogen und er hatte nachgegeben. Er hatte sie umkreist und beobachtet, in den Shisha-Bars und Spielhallen. Umkreist und eingekreist, dann den Hals lang gemacht. Riesengeschäft. Unverschnitten. Unschlagbar günstig. Was hatte ihn geritten? Wollte er die Alpträume loswerden, die ihn seit Alis Tod regelmäßig heimsuchten? Jetzt würde Askim auf jeden Fall das Versprechen einlösen, das der Blick des Jungen an der Hand seiner weinenden Mutter vor über 25 Jahren gegeben hatte. Und er selbst hatte sich zum Schafott geführt mit dieser selten blöden Idee. Schöne Scheiße , dachte er sich. Dann krachte es. Der Schlag riss den Joker aus seinen düsteren Betrachtungen. Er traf ihn an derselben Stelle, wo auch schon seine Vorgänger eingeschlagen waren. Der Schmerz wurde dadurch nicht weniger. Askim spazierte im feinen Zwirn vorneweg mit Hassan, als hätten sie mit denen, die ihnen da folgten, nichts zu tun. Sie unterhielten sich entspannt, als seien sie auf einem Sonntagsspaziergang, wobei sie ihn und das, was sie ihm oben anzutun gedachten, völlig ignorierten.
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