Die frische Luft wird uns guttun.“ Hier konnten sie sowieso keinem mehr helfen. Und wenn, dann würde zumindest er es sich zweimal überlegen. Schließlich waren die Melnikows eine durch und durch kriminelle und rücksichtslose Bande. Ursprünglich aus Weißrussland oder Tschetschenien. So genau wollten sie sich nicht festlegen. Im Rahmen einer der letzten Flüchtlingswellen waren sie hier im Landkreis angespült worden und hatten sich sofort aufgemacht, ihr Territorium zu erobern. Zuerst hatten sie sich durch Schrotthandel einen Namen gemacht, wobei sie zumeist mit geklauten Kabelrollen oder anderen hochwertigen Metallen handelten. Dann waren Zuhälterei und Drogen dazugekommen. Von den rund 15 angeblichen Kindern, Neffen und anderen Anverwandten saßen immer ein paar im Knast und trotzdem wurden es stetig mehr. Längst wusste man nicht mehr, wer wirklich zu denen gehört oder wer sich nur in ihrem Fahrwasser aufhält. Für die chronisch unterbesetzte Polizei im Kreis Heinsberg waren sie längst zu einem ernsthaften Pro-blem geworden. Und für die bis dahin in bestimmten Gegenden etablierten Gruppen, allen voran die Türken. Die hatten ordentlich bluten müssen. Allein in den letzten drei Jahren waren fünf oder sechs von denen auf sehr brutale Weise ausgeschaltet worden. Die bisherige Szene befand sich in der Auflösung und man wartete darauf, dass die Melnikows alles übernehmen. Damit war jetzt nicht mehr zu rechnen, wie es aussah. Von denen weinte er keinem auch nur eine Träne nach. Schade nur, dass ihm diese beiden Amokläufer durch die Lappen gegangen waren. Egal, die würde er später erwischen.
Neben ihm erbrach Hausmann ihren Mageninhalt auf ihre und leider auch seine Füße.
„Mensch, Mädchen, wir haben Zuschauer“, murmelte er und hielt sie stützend am Arm, während er hinüber schaute zu den Nachbarn, die sich angezogen hatten und nun warteten, wie es wohl weitergeht.
„Wat sensibel mit dem Magen, die Kleine, wa?“
Die Frage kam von dem Mann im Morgenmantel.
Becker wandte sich ihm zu und schaute ihn abschätzend an. Vor zwanzig Jahren wäre der ein harter Brocken gewesen, mit Muskeln von der harten Arbeit unter Tage und nicht zimperlich beim Austeilen von Kellen mit seinen großen Händen. „Sie waren nicht wirklich weg, als wir da drinnen waren, oder?“
„Nö.“
„Und wenn da drinnen geschossen worden wäre?“
„Wurde ja.“
„Da waren Sie auch schon hier?“
„Na klar. Seit die mit dem Laster da reingedonnert sind. Wird ja jeder von wach, von dem Radau. Wie soll ein anständiger Mensch denn da noch schlafen können, wa?“
„Und während da drinnen geballert wird stehen Sie hier rum und schauen sich das an.“
„Klar. Geht mich ja nix an, halt ich mich raus, kann mir nix passieren.“
„Haben Sie wenigstens die Polizei alarmiert?“
„Nö, wieso? Sie sind ja da.“
„Dachte ich mir.“
„Soll ich mal´n Aufgesetzten holen? Meine Frau schluckt dat Zeug schon seit Jahren wie Medizin, und die kotzt nie.“ Dabei deutete er auf Hausmann, die gebeugt im Vorgarten stand und würgte.
Dieser einleuchtenden Logik konnte sich Becker nicht entziehen, also bestellte er einmal „Antikotz“ für seine Kollegin und für sich einen extrastarken Kaffee, wenn´s geht mit Weinbrand. Zufrieden drehte sich der Nachbar um und zog ab. Durch diese Aufgabe war er sozusagen Teil der Ermittlungen geworden.
Hausmann hatte neben ihm fertiggewürgt, als Becker mehrere Martinshörner näherkommen hörte. Einen Augenblick später tauchte das Blaulicht der nahenden Einsatzwagen die an sich idyllische Szene vor dem Tatort in blau eingefärbte Hektik. Die Nachbarn wurden auseinandergetrieben und Flatterband gespannt. Den Kaffee mit Schuss konnte er wohl vergessen. Na klasse , dachte er und freute sich schon auf den Rest dieser verdammten Nacht.
Die Kollegen verbreiteten Hektik, was an sich dem Umstand angemessen war, dass da drinnen etliche Leichen lagen. Nach einer Weile trat Mercks von der Spurensicherung auf Becker zu und steckte sich eine Zigarette in den Mundwinkel.
„Und was sagst du?“, begann er das Gespräch.
„Was soll ich sagen?“, antwortete Becker und wandte den Blick von seiner Kollegin ab, die etwas abseits anscheinend immer noch gegen ihre Übelkeit ankämpfte. „Wir haben da drinnen neun Tote und allem Anschein nach sind die Täter getürmt.“
„Sieben“, korrigierte ihn Mercks und nahm einen Zug an der Zigarette.
„Was sieben?“, erwiderte Becker irritiert.
„Na, wir haben da drinnen sieben Tote, nicht neun“, erklärte der bullige Mittfünfziger, nahm noch einen Zug und schnippte die Zigarette mit einem „Scheißzeug“ angewidert weit über das Flatterband auf die Straße.
Becker starrte ihn verwundert an. „Neun. Da liegen neun Tote in dem Haus, ich habe sie doch selbst gezählt.“
„Dann hast du dich verzählt, kann ja mal vorkommen“, erwiderte Mercks gleichgültig. „Da drinnen liegen sieben Kunden, nicht einer mehr oder weniger. Kannst gerne nochmal nachzählen. Aber dann streif dir bitte Überzieher über die Schuhe.“
Auf dem Weg zum Haus listete Becker die Leichen in den Zimmern auf. Mercks trottete neben ihm her und strich sie jedes Mal für sich mit einem knappen „jepp“ ab.
„.. im hinteren Flur linker Raum, drei Leichen übereinander.“
„Jepp.“
“Dann die Frau im Flur.“
„Jepp.“
„Daneben im letzten Raum noch zwei …“
„Negativ.“
„Wie bitte?“ Becker blieb stehen und schaute seinen Kollegen entgeistert an. „Na klar, einer mit so `ner Bomberjacke, der lag auf dem Bett. Und neben dem Bett am Heizkörper noch so ein südländischer Typ. Es war zwar dunkel, aber so viel konnte ich erkennen.“
„Ich weiß nicht, wo du die gesehen haben willst, aber der Raum ist leer. Allerdings hat jemand reingepinkelt. Am Bett ist eine große Lache“, entgegnete Mercks und setzte sich wieder in Bewegung.
„Und latsch jetzt bitte nicht da rein. Du kannst nachher die ganzen Fotos haben, als Erster, versprochen.“
Das Fenster. Die Wäscheleine. Becker setzte sich in Bewegung ums Haus herum. Vielleicht waren seine beiden Leichen ja hinten rum verduftet. Ein Uniformierter kam ihm entgegen, bei dem er sich eine Taschenlampe lieh. Über uneben verlegte Bodenplatten ging es am Haus vorbei in den offenen Garten. Im Strahl der Lampe entdeckte Becker schnell die Wäscheleine vor dem Fenster. Vielleicht konnte die ja was über die beiden verschollenen Gewaltopfer erzählen.
„Was suchst du hier?“, hörte er Hausmanns Stimme hinter sich.
„Zwei unserer Toten“, lautete seine abwesende Antwort, denn er suchte schon mit dem Scheinwerfer den Boden rund um die Wäscheleine ab. „Laut Mercks haben wir nur sieben Tote da drinnen und nicht neun, wie wir gezählt haben.“
„Aha?“, sagte Hausmann und ihre Stimme klang irritiert. „Aber wir haben doch durchgezählt, bevor ich … naja.“ Sie brach den Gedanken ab und schaute ihn ernst an. „Ben, ich muss dir was sagen. Ich bin schwanger, weißt du?“
„Aha.“
„Aha?“
„Ja, und da wollte ich mal schauen, wohin sich die beiden anderen verdrückt haben. Sie können sich ja nicht in Luft aufgelöst haben und bis neun zählen kann ich immer noch“, fuhr Becker abwesend fort und leuchtete auf den Boden. Da war die Auskunft. Unter der Leine auf dem Boden waren Rutschspuren. Da hatte sich einer beim Weglaufen verheddert. Und etwas verloren. Auf dem Boden glitzerte etwas im Schein der Taschenlampe.
„Sag mal, hast du eben gesagt, dass du schwanger bist?“, schoss es ihm auf einmal durch den Kopf und er drehte sich zu Hausmann um. Sie war nicht mehr da.
*
Die Kette mit dem Amulett lag in einer Plastiktüte auf dem Schreibtisch. Becker stellte die Tasse daneben ab und stand auf. Es handelte sich bei dem Kleinod um die „Hand der Fatima“, das hatte er mittlerweile dank Google und einer türkischstämmigen Kollegin herausbekommen. Der Anhän-ger hatte die Form einer Hand, in deren Mitte ein Auge eingearbeitet war. Ein Glücksbringer, der den Besitzer vor den Dämonen des Alltags beschützen sollte – und anscheinend vor tödlich herumfliegenden Pistolenkugeln. Mit seiner Geschichte von den beiden verschwundenen Leichen hatte Becker bei den Kollegen nur Hohn geerntet. Niemand wollte ihm glauben. Vor allem nicht, weil er bisher in dem Fall eine ziemlich jämmerliche Figur abgegeben hatte.
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