1 ...7 8 9 11 12 13 ...16 »Ist noch viel schlimmer, als du denkst«,
beginnt er mit bedeutungsvoller Miene, was mich erstaunt. Bisher ist doch alles nicht so schlimm und die Frau ist doch einfach nur fett, na gut, ultra fett, aber gemessen an den Schicksalen in den anderen Räumen mag das vielleicht wirklich nicht so schlimm sein. Andererseits sinkt mein Vertrauen in die Beschwichtigungen des Pflegers mit jeder Gelegenheit, bei der er seinen Spruch aufsagt. Nun also das Gegenteil, die Ausnahme. Ausnahmen müssen sogleich begründet werden: »Die ist einen Meter sechzig groß und wiegt mindestens 139 Kilo. Bestimmt ist es jetzt noch mehr, sie weigert sich aber seit einem halben Jahr, auf die Waage zu steigen. Ist vielleicht auch besser für die Waage, die hört bei 140 auf, hä hä. Der Trick ist aber: die Frau ist Diabetikerin, hat Zucker, verstehst? Eigentlich darf sie nix essen, strenge Diät ausgenommen, pfeift aber drauf. In dem Schrank da, da liegt normalerweise bei Heimbewohnern die Kleidung drin. Bei ihr nicht. Sie hat vielleicht vier Nachthemden, sonst nichts. Der Rest des Schrankes ist hoch voll mit Süßigkeiten. Zeig ich dir bei Gelegenheit mal.«
Der Boden schwankt kurz und heftig unter mir. Der Klumpen in meinem Magen verflüchtigt sich mit einem Schlag. Statt seiner tut sich ein Loch auf, ein trichterförmiger rotierender Mahlstrom. Hunger bis unter die Arme. Wie kommt das denn? Ich weiß es. Ich esse gerne Süßigkeiten. Was heißt gerne? Schokolade in allen Zustandsformen stellt mein Hauptnahrungsmittel dar. Auch deshalb liegt mir ordinäres Graubrot wie Blei im Magen. Für derlei schwer zu verdauende Lebensmittel bin ich nicht trainiert. Leider habe ich seit zwei Wochen außer besagtem Graubrot und gelegentlichem Mensaessen nichts mehr zu mir genommen. Bezogen auf Süßigkeiten bin ich demnach auf strengem Entzug. Die Wirkung der erwähnten Vorräte ist fatal. Ein Verlangen entsteht, ein Verlangen, diesen Schrank zu öffnen und eine Schneise hinein zu fressen. Steht Mundraub noch unter Strafe? Können Mercedes-Fahrer Mundraub begehen? Ich beschließe, Überstunden zu machen, falls mir der Vorschuß verweigert werden sollte. Dabei fällt mir was ein. Unter beachtlichen Bemühungen, nicht tückisch zu klingen frage ich: »Verläßt sie denn nie das Zimmer? Ich meine, irgendwie kommt sie doch an das ganze Zeug, sie muss doch einkaufen gehen.«
Erhard verzieht das Gesicht, die Furchen teilen es in drei Teile. Merkwürdige Art, zu grinsen.
»Wirst schon sehen, wie das geht. Die Alambra hat Vermögen, muss nicht vom Taschengeld leben wie die Szialhilfe-Fälle. Die hat ihr eigenes Telefon, damit ruft die beim Edeka unten an der Ecke an und die schicken einen Schüler, der es ihr für fünf Euro bringt. Das macht der jeden verfluchten Tag, hat sich erst letzte Woche einen Roller gekauft vom Gewinn. Nee, die verläßt ihr Zimmer nicht. Wozu auch, kriegt alles in den Arsch geschoben. Wirst schon sehen, die ist Weltmeister im klingeln.«
Das sagt mir nichts, ich sehe nur mein Schlaraffenland, wie es durchsichtig wird und mit sanftem >plopp< entschwindet. Keine Überstunden also. Nachfragen geht nicht, die Frau kehrt gerade zurück, rot im Gesicht wackelt sie zu dem eben erwähnten Kleiderschrank, zerrt an der Kette, die sie um den Hals trägt und der einen Schlüssel trägt, dreht sich um und sagt: »Ich klingle, wenn ich was brauche.«
Mit diesem Rausschmiß erster Klasse trollen wir uns, Frau Alambra möchte bei ihrem Diätfehler unbeobachtet bleiben, oder es soll niemand erfahren, was noch alles in diesem Kleiderschrank lockt. Erhard findet das ganz normal, die bekannte Routine wiederholt sich und schon ist das nächste Zimmer dran. Keine Zeit zum Nachdenken. Das wird mir noch Entzugserscheinungen ganz anderer Art bescheren. Der Trichter in meinem Bauch jedenfalls trollt sich, da für die nächste Zukunft kein Futter in Aussicht steht.
Diesmal wieder zwei Frauen. Beide liegen im Bett, beide sind wach. Erhard begrüßt sie wieder, diesmal jedoch herzlicher. Die eine Frau strahlt richtig, als er sie an der Wange streichelt, sie umarmen sich, da sieht sie mich. Sie stößt einen undefinierbaren Laut der Freude aus und streckt beide Arme nach mir aus. Erhard grinst:
»Geh ruhig hin, unsere Frau Jonas ist ein Schätzchen, die braucht das. Ist nicht schlimm.«
Wieder so was, was nicht schlimm sein soll, für mich aber durchaus ein Problem darstellt. Ich habe es nicht damit, wildfremde Menschen zu umarmen und wildfremde Menschen, die mich mir Begeisterung in der Stimme umarmen wollen, machen mich extra mißtrauisch. Dennoch, Job ist Job, ich gehe hin, Frau Jonas greift erstaunlich kräftig zu, ein Schraubstock preßt sich an mich, ein feuchter Schmatz knallt mir ans Ohr, ein wenig Sabbel läuft mir zusammen mit einem Schauer herunter. Ich versuche, sie nicht anzufassen, spüre ich doch deutlich ihren großen Busen. Verdammt, warum macht es mir was aus, einen großen Busen zu spüren? Die Frau, die sich vor kurzem noch meine Freundin nannte, hat auch keinen großen Busen, hat mich noch nie gestört. Nur ist das nicht das Problem. Ich stelle plötzlich fest, dass es für mich keinen Unterschied macht, wie alt die Trägerin eines großen Busens ist.
Das auch noch! Heute ist wirklich der große Tag der unvermuteten Probleme. Natürlich, ich habe mit Problemen gerechnet, irgendwie. Ich rechne immer mit Problemen. Das rührt daher, dass im Gegenzug alle Probleme irgendwann auch wirklich zu mir kommen. Meistens mehrmals. Und nun darf ich erkennen, dass immer noch Probleme durch die Welt wandern, die sich ihren Antrittsbesuch bei mir noch aufgehoben haben. Mithin vermag ich es trotz aller Anstrengungen nicht zu bewerkstelligen, mich sachgerecht auf ein Problem vorzubereiten, von dem ich noch nichts ahne. Das ist wirklich übel. Ich lag also wieder einmal daneben. Ich habe mit dieser Frau und ihrem arglosen breiten Grinsen nicht gerechnet. Das ist definitiv das falsche Problem. Ich habe mich anhaltend mit dem finalen Problem auseinandergesetzt, nicht mit einer endlosen Kette von Grauenhaftigkeiten, die mich stückweise fertig machen. Der große Vernichter wäre mir jetzt lieber, einmal bumm und Schluß. Wieviel Nägel hat ein Sarg? Die hätten mich gar nicht erst für diesen Job anzustellen brauchen. Ein Blinder bei Neumond im U-Bahnschacht erkennt doch, dass ich völlig unfähig bin. Aber nein, man unterwirft mich einer Reihe bizarrer Prüfungen und tut so, als müßte man das Offensichtliche erst noch mühevoll herausdestillieren. Soll ich mir selbst den Strick nehmen, weil die Anderen zu fein dafür sind?
Frau Jonas jedenfalls ist alt und deshalb kennt sie wohl die Männer. Sie sieht mich an, scheint alles zu sehen, was sie nicht sehen soll, und sie grinst mich an wie eines dieser Luder aus der Werbung, die beim Joghurt-naschen ansatzlos rollig werden. Ich sehe an ihr herunter, die Augen gehen mir über. Sie trägt ja nur ein Nachthemd, ein relativ durchsichtiges noch dazu. Offenbar wertet sie meinen Blick als eine Art Signal, jedenfalls knurrt sie so etwas wie ein Kommando und reißt sich das Nachthemd runter. Ein unverstellter Blick auf den zuvor nur gespüren Busen blockiert meine ohnehin nur ansatzweise vorhandene Denkfähigkeit. Ja, genau so hat er sich angefühlt. Mir ist alles nur noch peinlich. Wie soll ich damit jetzt umgehen? Das ist eine Oma. Eine Oma mit einem Busen, der überhaupt keine Falten aufweist. Da hilft nur der Blick zurück in das faltige Gesicht, wenn auch nur kurz, das Leuchten in ihren Augen trifft mich noch stärker als die nackten Tatsachen. Selbst bei einer jungen Frau hätte mich die Entwicklung vollständig überrumpelt, zumal ich nicht sonderlich an Zuschauern interessiert bin. Der Umstand, nichts zu tun, durch mein warten quasi die Zeit in ihrem Lauf zu behindern, macht alles nur noch peinlicher.
Ich höre Erhard neben mir breit grinsen. Er hat seinen Gönner-Tag, offensichtlich soll ich ihm heut auch ein wenig Freude bereiten. Er geht zum Waschbecken, macht den Lappen feucht, kommt zurück, in der ganzen Zeit ist der Rest des Bildes eingefroren, ich stehe hier und sehe den Busen, sehe das erwartungsfrohe Strahlen der alten Frau, und bedenke den Umstand, dass mich bislang keine meiner Freundinnen derart offenkundig erfreut erwartet hat. Diese Erkenntnis hilft mir ebensowenig aus der Klemme wie alle anderen Überlegungen zuvor. Erhard drückt mir den feuchten Lappen in die Hand und meint in echter Gönner-Laune:
Читать дальше