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Thomas Pfanner
2021
Ein Vorgeschmack
Eine einzige Sekunde kann alles verändern. In einer einzigen Sekunde verarbeitet das Gehirn alle erreichbaren Sinneseindrücke und präsentiert sie dem Bewußtsein. Das Bewußtsein wiederum tut sich regelmäßig schwer, in der gleichen Geschwindigkeit die Informationen auszuwerten und eine Entscheidung zu treffen. Je nach Charakter der handelnden Person wird die Zeitspanne, die sich zwischen Erkenntnis und Entscheidung eröffnet, als sehr lang oder unglaublich kurz empfunden. Gelegentlich ergibt sich neben dem Zeitdruck auch durch die ungeheure Tragweite des fälligen Entschlusses eine zusätzliche Dramatik.
Johenn wusste dies seit langem, auf einer eher theoretischen Ebene. Seine Erfahrungen hatten seinen Charakter geprägt und sein Charakter machte ihn zu einem pessimistischen und vorsichtigen Menschen. Bei jeder Krise, jeder Schwierigkeit, jeder Veränderung malte er sich unwillkürlich das W orst-Case-Szenario aus, inklusive der dann noch möglichen Optionen für ihn. In der Realität trat ein absoluter Notfall praktisch nie ein. Auch ein Soldat befand sich nur gelegentlich im Kampf. In seinen Gedanken aber, in seinem Gedächtnis, in seinen geheimen Plänen, spielte er alles jeden Monat etliche Male durch. Er hielt sich für vorbereitet. Von einer Sekunde auf die andere wurde klar, daß er es nicht war. Er hatte sich zu sehr darauf verlassen, in einem friedlichen Land zu leben.
Er wurde von der sich unvermittelt ergebenden Situation vollständig überrascht. Eben noch stand er leise pfeifend vor dem Pissoir der Besuchertoilette des Albert-Einstein-Gymnasiums, nicht so sehr der Notdurft wegen, sondern um die Zeit tot zu schlagen. Zeit hatte er immer genug gehabt, weil er ein Gehetzter war, eine ihn permanent quälende Facette seines Pessimismus. Immer schon und seit frühester Jugend lebte er mit der Angst, zu spät zu kommen. Die Aussicht, auch nur eine Minute zu spät zu kommen, machte ihn panisch. Früher, als Schüler, schwänzte er den Unterricht lieber ganz, als verspätet in die Klasse zu treten und sich der vermeintlichen Schande aussetzen zu müssen. Das Problem bewältigte er dauerhaft, in dem er stets mit reichlich Spielraum arbeitete. Sein Leben war aufgrund dieser Vorgehensweise relativ unaufgeregt verlaufen, was die Angst vor der Verspätung betraf.
Heute also stand er zwanzig Minuten zu früh in der Schule. Seine Tochter saß noch im Unterricht, und er vertrieb sich die Zeit mit einem überflüssigen Toilettengang. Eigentlich wollte er sich noch ausgiebig die Hände waschen, doch irgend etwas bewog ihn, ohne hygienische Nachsorge den Raum zu verlassen. Später konnte er nicht sagen, welchem Umstand er die einmalige Abweichung vom immer gleichen Plan verdankte. Er hatte nichts gehört außer dem Rauschen der Belüftung und dem Gurgeln der Spülung. Da war nichts und doch traf er bereits hier eine Entscheidung, die ihn schnurgerade und überaus pünktlich zu der eigentlichen, der wichtigsten Entscheidung führte.
Johenn schob die Tür auf, die wahrscheinlich einzige Tür in dem ganzen maroden Bau, die nicht quietschte, trat einen Schritt vor… und die Sekunde begann.
Die Toilette befand sich an der Seite der großen Aula, die sich im Erdgeschoß über gute vierhundert Quadratmeter erstreckte. Auf der anderen Seite führten einige Türen zu den Treppenhäusern, links von seinem Standort verlief der breite Flur, durch den man zu den beiden Ausgängen gelangte. Die Aula war dennoch kein Ort übermäßiger Weite, zehn oder zwölf breite Säulen stützen die oberen Geschoße und verdeckten den Blick zumindest teilweise. Johenn selbst wurde von einer dieser Säulen verdeckt, die just drei Meter knapp links von ihm aus dem Boden wuchs. Die Existenz der Säule verschaffte ihm erst die Sekunde.
Nach dem Schritt hinaus in die Aula stoppte Johenn, blieb wie angefroren mitten in der Bewegung stehen, wobei er den Grund für seine Handlung noch nicht einmal im Entferntesten zu erfassen vermochte. Die Szenerie wirkte auf ihn irgendwie falsch . Nichts paßte zu seiner Erwartung, wie Menschen sich in einer Schule zu verhalten hatten. Eine Zehntelsekunde währte die Bestandsaufnahme. Er sah Schüler, die starr vor Schreck an den Wänden kauerten. Er sah Schüler, die rannten, jeder in eine andere Richtung, aber alle von ihm weg. Die nächste Zehntelsekunde forschte er nach einem möglichen Grund. Er fand ihn direkt vor sich, an besagter Säule. Halb verdeckt von dem Gebilde aus Beton stand da ein Mann. Eine weitere Zehntelsekunde investierte Johenn in die Musterung des Mannes. Er konnte lediglich die rechte Körperhälfte erkennen, sowie die rechte Hand. Er sah alles auf einmal und war doch verwirrt. An der Schulter des Fremden ragte der Griff eines Messers heraus, bereit, von der rechten Hand ergriffen zu werden. Rund um das Messer grünlicher Drillich, ein militärisch wirkendes Hemd, in diesem Fall zusätzlich mit arabischen Schriftzeichen verziert, am Hals in ein schwarzes Tuch übergehend. Ein Kopf voller Haare, das Stirnband hinten geknotet, ohne den Haaren eine Ordnung geben zu wollen. Nackter Unterarm, in eine haarige Hand übergehend. In der Hand eine Pistole. Johenn vermochte die Waffe mit Leichtigkeit zu identifizieren. Er vergaß nie etwas, das war sein Schicksal. Eine solche Fähigkeit geriet gemeinhin zu einer unendlichen Bürde, da alle Katastrophen und Fehlschläge eingebrannt blieben ins schlechte Gewissen. Heute würde die Ernte eingefahren werden, heute würde sich all das Leid auszahlen. Und doch nur wieder Leid erzeugen.
Eine Glock 19 . Die Pistole mußte echt sein, für dieses Modell gab es keine Gas- oder Schreckschuß-Version. Außerdem sprang ihm der fettglänzende Verschluß ins Auge, hochwertiges Waffenöl kam hier überreichlich zum Einsatz. Einige Teile des Puzzles fielen zusammen, die Konsequenz unglaublich klar vor Augen, begannen nun die gräßlichsten Zehntelsekunden. Wie eine Schrankwand fiel der Zwang zur Entscheidung auf Johenn und nahm ihm die Luft zum Atmen. Sein Gehirn spaltete sich auf in zwei Teilbereiche, die in zwei Geschwindigkeiten arbeiteten. Die eine, vertraute Seite, verfiel in gewohnter Weise in Panik, spürte sie doch den Zeitdruck. Johenn wußte ganz genau und ohne zeitraubende Denkarbeit, dass er jetzt und hier handeln mußte, auf der Stelle und sofort. Statt dessen hielt ihn die zweite Hälfte seines Denkorgans davon ab, in dem dort in quälender Langsamkeit alle Möglichkeiten durchgespielt wurden. Das hier konnte nicht so sein, wie es aussah, es durfte nicht sein, sicher gab es eine logische und ganz harmlose Erklärung, die ihm nur noch nicht klar geworden war. Auch die zweite, langsame Hälfte wurde in diesem winzigen Zeitabschnitt von Panik gepeitscht. Ohne die Augen zu bewegen, suchte Johenn in dem sich ihm bietenden Bild nach einem Hinweis, nach einer Kamera, einem Beleuchter, einer Regieassistentin, einem Schauspieler. Nicht auszudenken, wenn er einen Darsteller angriff und verletzte, wenn das alles nur die neue Folge einer bekannten Fernsehserie werden sollte. Er würde ins Gefängnis kommen, und zudem der Lächerlichkeit preisgegeben, von den lebenslangen Selbstvorwürfen ganz zu schweigen.
Die hektische Hälfte seines Denkens beobachtete mit wachsender Panik, wie die langsame Hälfte um neue Erkenntnisse rang, während gleichzeitig bereits das Was-wäre-wenn-Szenario bedacht werden mußte. Was, wenn das alles wirklich echt wäre? Was konnte er dagegen tun? Seine Fähigkeiten, würden sie ausreichen? Seine Skrupel, sein Gewissen, der ganze zivilisatorische Überbau eines Menschen, der die letzten Jahre in Frieden gelebt hatte, würde ihn all das nicht von jeglicher Gewalt abhalten?
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