Wir erkannten sofort unseren Duisburger Neuzugang, und Joachim stieß mich an.
„Jetzt bin ich aber mal gespannt“, raunte er, und wir schauten verstohlen zu dem Langen hinüber. Minuten später fragten wir uns, ob die vierzig Meter, die uns von diesem Naturereignis trennten, als Sicherheitsabstand genügen würden. Die Wurfkünste des Langen waren lebensgefährlich. Dreimal schleuderte er sein Grundblei quer über die Bucht, so, dass wir beeindruckt die Köpfe einzogen. Mit traumwandlerischer Sicherheit traf er genau die Stellen, die wir aus gutem Grund mieden, und im Handumdrehen fand er heraus, warum wir das taten. Die ersten drei Bleie verabschiedeten sich auf Nimmerwiedersehen an den Querschlengen, die man natürlich jetzt bei auflaufendem Wasser nicht mehr sehen konnte. Der Lange hatte dadurch einige Meter Sehne weniger auf der Rolle, ließ sich jedoch durch solch kleine Malheure nicht abschrecken. Wacker montierte er ein neues Blei. Haken dran, Wurm drauf – und los! In diesem Moment jedoch quittierte seine Rolle, Marke Billigramsch, ihren Dienst. Der Schnurfangbügel klappte zu früh über, die Rute verbeugte sich, und mit lautem Knall brach die Schnur. Nunmehr ungebremst flog das Blei wohl an die hundert Meter weit, bevor es einem kleinen Sportboot eine Delle in die Bordwand schlug und mit hämischem „Platsch!“ in den Fluten versank.
Aus unserem breiten Grinsen war mittlerweile lautes Gelächter geworden, doch das focht den Langen nicht an. Unbeirrt fuhr er fort, seine Bleie gleichmäßig in alle Himmelsrichtungen zu verteilen. Es dauerte nicht lange, da kam er mit hochrotem Kopf zu uns herübergepoltert. „Öhm, ihr hättet nicht zufällig eine Ersatzrolle Sehne für mich?“, fragte er. Ich richtete mich mühsam im Gras auf und deutete röchelnd auf meine Angelkiste, während Joachim sich mit wieherndem Gelächter auf dem Boden wälzte. Etwas unwillig beobachtete ihn der Lange, während er fünfzig Meter Schnur umspulte. Ganz deutlich konnte man sehen, dass ihn die Frage beschäftigte, worüber der Kerl sich da so ungemein amüsierte. Nicht im Traum fiel es ihm ein, dass er der Grund für unsere nicht mehr zu zügelnde Heiterkeit war.
Wir wischten uns die Tränen aus dem Gesicht und blieben vorsichtshalber gleich im Gras sitzen, als die Show weiterging. Das peitschenknallartige Geräusch, mit dem der Schlacks unverdrossen seine Bleie in Erdumlaufbahn schoss, veranlasste uns, schnell wieder unterzutauchen.
„Wenn der hier länger wohnt, wird Onkel Schorse ein reicher Mann“, stellte ich prustend fest. Joachim konnte nur noch wimmern
„Ich kann nicht mehr, hoffentlich geht dem bald das Blei aus“, jappste er.
In der Tat war nach einer Weile der Bleivorrat des Langen am Ende, und wir waren es auch. Der Schlacks wusste nicht genau, was er tun sollte. Einfach das Feld räumen und sich endgültig der Lächerlichkeit preisgeben? Nein, so einer war er nicht! Er stiefelte zu uns herüber, ließ sich kurzerhand neben uns ins Gras fallen und hielt uns wortlos seine Zigaretten hin. Nachdem die blauen Wölkchen der Friedenspfeife uns umgaben, stellte er sich vor.
„Ich heiße Bodo. Und wenn ich geahnt hätte, was ihr hier für Scheißgewässer habt, wäre ich in Duisburg geblieben.“ Wir fragten uns damals, ob das nicht das Beste für alle Beteiligten gewesen wäre. Doch wir zeigten uns großherzig, indem wir ihm eine zweite Rolle Schnur stifteten. Als er kleinlaut nach Grundbleien fragte, rieten wir ihm, auf Posenangelei umzustellen. Das Wasser war inzwischen so weit aufgelaufen, dass es ratsam war, nicht nur die Stellung, sondern auch die Taktik zu wechseln. Bodo, der mit den Tricks, die man hier anwenden musste, nicht vertraut war, beäugte uns recht misstrauisch. Erst, als er feststellte dass unser Rat keine Kritik an seinem anglerischen Können sein sollte, sondern auch wir tatsächlich begannen, unsere Angelruten umzumontieren, nahm er unseren Vorschlag an. Vorsichtig kletterten Joachim und ich über die Steinbrocken hinunter zum Wasser, wo wir unsere Köder etwa eineinhalb Meter vor dem Ufer placierten. Der Lange tippte sich bezeichnend an die Stirn.
„Ey, was wollt ihr denn da fangen? So was habe ich ja überhaupt noch nicht gesehen!“, stellte er grinsend fest.
„Aale!“, kam die Antwort lippensynchron von Joachim und mir. Sein Lachen und die Bewegung seines noch immer tippenden Fingers erstarben, als meine Pose heftig nach unten gerissen wurde. Ohne zu zögern schlug ich an, und zog einen Aal von einem guten dreiviertel Pfund Gewicht aus seinem Element.
„Boh!“, tönte es vier Meter über uns. Ich beeilte mich, den glitschigen Fisch in Sicherheit zu bringen. Sollte er mir vom Haken abkommen und zwischen die Steine fallen, wäre er nicht wieder einzufangen gewesen. Auch Joachim hatte Erfolg und landete einen ähnlich guten Aal. Als wir unseren Fang versorgt und die Haken neu beködert hatten, kletterten wir wieder hinunter zu unserem Fangplatz. Dort grinste uns ein langer Schlacks namens Bodo entgegen. Entschuldigend breitete er die langen Arme aus.
„Ihr habt doch nichts dagegen?“, wollte er wissen. Nein, hatten wir nicht. Wir wussten, dass genug Aale für uns alle da waren. Joachim konnte es sich nicht verkneifen, und meinte trocken: „Bleib man sitzen und pass gut auf, wir haben schon ganz anderen Leuten das Angeln beigebracht.“
Bodo bekam große Augen. So viel Frechheit war ihm, bis auf seine eigene, noch nie begegnet. Andererseits, wir hatten schon ein paar Aale im Eimer, er noch nicht. Wie immer wollte er das letzte Wort haben, doch bestand seine Antwort nur aus zwei Worten: „Boh, ey!“
So besiegelten wir eine Freundschaft, die noch lange halten, und uns eine Reihe aufregender Abenteuer bescheren sollte.
Ich stand zwischen den „erwachsenen“ Angelkollegen am Vereinsteich, und mühte mich, mit der Stipprute einige der handlangen Rotaugen zu erwischen. Wie in jedem Herbst war heute Raubfischangeln angesagt. Obwohl weit verbreitet die Meinung vorherrscht, beim Angeln müsse man leise sein, war hier Volksfeststimmung. Die umstehenden Angler kannten nur ein Thema, das sie denn auch ausgiebig diskutierten. Am nächsten Wochenende sollte es eine Busfahrt zum Hochsee-Angeln nach Kiel geben, doch hatte man noch Plätze frei.
„Na, was is? Willste mit?“, fragte Opa Diercks und schaute mich auffordernd an. Ich schluckte, denn ich ahnte, was meine Erziehungsberechtigten daheim zu diesem Ansinnen sagen würden. Allerdings konnte ich mir nicht die Blöße geben, noch als kleiner Junge angesehen zu werden. Auch wenn es sich um meine Eltern handelte. So schüttelte ich nur den Kopf.
„Ne, habe ich noch nie gemacht, und darum auch keine Ausrüstung dafür“, versuchte ich, mich herauszureden. Der gutmütige Oldtimer musterte mich einen Moment, dann verzogen sich die Enden seines Schnurrbartes zu einem verstehenden Lächeln. Er beugte sich ein wenig zu mir herüber, winkte mich näher zu sich heran und hielt die Hand an den Mund, was den vertraulichen Charakter seiner Worte andeutete.
„Rute und Zubehör kriegst du von mir. Ich habe eine Rute, die ich dir leihen werde. Auf dem Heimweg schau ich dann mal kurz bei deinen Eltern vorbei“, versprach er so leise, dass nur ich ihn verstehen konnte. Nun, wenn er denn meinte…, er konnte es ja mal versuchen. „Versuch macht kluch!“, pflegte sogar mein Chemie-Lehrer stets zu sagen, bevor er mit dem nächsten Experiment den gesamten Versuchsaufbau zur Detonation brachte.
Es wurde meine erste „Hochsee-Fangfahrt" in den 60er Jahren. Der Bus brachte uns nach Kiel, wo wir einen kleinen und betagten Fischkutter enterten. Das gute Stück hieß „Seeschwalbe“, doch kamen mir arge Bedenken, ob sie nicht schon in einem Alter war, wo man mit Flügellähmung zu rechnen hatte. Kapitän Droste hingegen vertraute seinem Kahn blind, denn obwohl der Kutter nicht gerade den stärksten Motor besaß, schipperte er mit ihm unverdrossen bei Wind und Wetter nach Langeland, wo es die besten Dorschfanggründe gab. Vor der dänischen Insel schien er jeden Stein am Meeresgrund zu kennen. Mit traumwandlerischer Sicherheit fand er jede Dorschwiese und ich wette, er hätte sogar jede Flunder mit dem Vornamen anreden können. Das Wetter war so gut wie die Stimmung, und auch der Umstand, dass wir wegen der Zollformalitäten Laboe anlaufen mussten, konnte der Fröhlichkeit an Bord keinen Abbruch tun.
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