Geduldig hört Sammy weiter zu, setzt sich auf den Empfangstresen, nimmt die Schachtel auf den Schoß und streicht Elsie mit seiner freien Hand beschwichtigend übers Gefieder. Davon überrascht, hält sie den Schnabel, legt aber gleich wieder los, lauter als zuvor. „Nein, so weit lassen wir es nicht kommen! Geben Sie ihm bitte nichts zu fressen, Wasser natürlich! Und Ruhe! Ihre Unruhe überträgt sich auf ihn!
Warum ich so schreie, habe gerade einen Notfall! Kommen Sie gleich um sechzehn Uhr, wenn der Durchfall anhält! Wieder... ...hören“, vollendet Sammy leise, was jedoch in Elsies Geschrei versinkt, legt das Telefon beiseite und wirft einen erschöpften Blick zu Mistie. Der wendet sich energisch an die Elster. „Entweder du hältst jetzt endlich den Schnabel, oder ich erinnere mich daran, dass ich ‘eigentlich’ ein Marder bin!“
„Bingo, mein Junge!“ Sammy grinst Mistie an. „Das hat gesessen.“ Mit langen Schritten umrundet der Tierarzt fast die ganze Villa. Am Pavillon, auf dessen Dach er kürzlich auf Sophias Wunsch einen Wetterhahn aus Messing anbrachte, lehnt noch eine Leiter. Etwas dahinter versetzt, bewegt der Wind die Plane auf dem Swimming-Pool. Auf den ersten Blick kann man der Illusion erliegen, es sei eine Wasseroberfläche.
Endlich erreicht Sammy die rückseitig angebaute Voliere. „Du hast die Ehre, sie einzuweihen“, verkündet er feierlich, lässt Elsie hineinhüpfen und will gerade sein Handy zücken, hält aber inmitten der Bewegung inne. „Was ist, sind sie das?“
Mistie spitzt seine Ohren und lauscht angestrengt Richtung Einfahrt. Im nächsten Augenblick biegt auch schon Lady um die Ecke, gefolgt von Sophia. “Schatz, tut mir leid!“, ruft sie. „Unsere Kleine hatte sich selbstständig gemacht.“
„Ja, und als ich zurückkam, fand ich eine völlig verängstigte Sophia vor“, kläfft Lady Mistie zu. „Dabei soll dieser merkwürdige Therapeut ihr doch Mut machen. Ich bezweifle stark, dass der dazu fähig ist.“
Mistie schnuppert an ihr herum, zunehmend aufgeregter. „Sag bloß, wie ist das möglich? Rieche ich richtig? Du hast doch nicht etwa...“
„Captain Nemo getroffen“, fällt Lady ihm ins Wort. „Doch, genau das habe ich. Die MS Viktoria liegt wieder in ihrem Heimathafen. Und unser Freund hat offenbar Blut geleckt.“
„Was!“, stößt Mistie hervor. „Der geht jetzt tatsächlich selbst auf die Jagd?“
„Nur nach zwielichtigen Gestalten“, hakt Lady ein, erzählt ihm von der Bespitzelung Sauberkrauts und dass sie nur knapp den wohlmeinenden Leuten entkam, die sie ins Tierheim verfrachten wollten.
Unterdessen bahnt sich zwischen Sammy und Sophia eine Auseinandersetzung an. Mistie bemerkt es zuerst. „Hör nur“, meint er zu seiner Freundin. „Sie reißen sich darum, wer wen zum Essen einladen darf.“ Obwohl er nun schon viele Wochen mit Menschen zusammenlebt, vergeht kaum ein Tag, an dem der Marder sich nicht über deren Verhaltensmuster und Gewohnheiten wundert.
Elsie hat inzwischen die Voliere inspiziert, klettert am Maschendraht hoch und macht mit ohrenbetäubendem „Krah Krah“ auf sich aufmerksam. „He, habt ihr mich etwa vergessen? Ich hab Hunger, Hunger, Hunger!“
Sophia, die Sammy gerade wieder mal versichern wollte, wie gerne sie für ihn bezahle und dass das überhaupt nicht ehrenrührig sei, horcht erstaunt auf und tritt an die Voliere heran. „Oh, wie ich sehe, haben wir Familienzuwachs.“
Elsie hält ihren Kopf schief und hört ihr aufmerksam zu. „Ob ich zu eurer Familie gehören will, muss ich mir erst überlegen. Ich hoffe, ihr seid nicht ganz so blöd wie die Menschen, die mich meinen Eltern entführt haben, bloß weil ich aus dem Nest gefallen bin!“
„Ich hab den Spaziergängern, die sie mir brachten, erklärt, dass Rabenvögel ihre Jungen weiterversorgen, wenn sie aus dem Nest fallen, und man sie nicht mitnehmen sollte“, berichtet Sammy und seufzt. „Elsie nützt das leider nichts mehr.“
„Sie ist bestimmt hungrig“, überlegt Sophia, worauf die Elster zustimmend krächzt. „Endlich jemand, der mich versteht!“
„Ich hol’ ihr was“, sagt Sammy, bereits unterwegs in die Villa. Ihren eigenen Magen scheint Sophia vergessen zu haben, beobachtet die Elster und redet ihr gut zu. „Gleich bekommst du was. Du hast vielleicht kluge, blanke Äuglein, siehst mich an, als ob du alles ganz genau verstündest.“
Lady räkelt sich auf dem kurzgeschorenen Rasen und lässt sich die Sonne auf den Bauch scheinen.
„Was ist jetzt mit diesem Sauberkraut?“, erkundigt sich Mistie. „Wird er diese Typen, von denen die Rede war, freilassen?“
Lady rollt sich auf den Bauch. „Das weiß vielleicht Captain Nemo. Ich musste doch fliehen, weil die mich ins Tierheim stecken wollten.“
Elsie wird schon wieder ungeduldig, steckt Sophia damit an. „Ja, du hast ganz Recht. Wo bleibt er bloß mit deinem Fresschen?“ Sie schaut Richtung Einfahrt, von wo Sammy vor unendlich lang anmutender Zeit um die Ecke gebogen ist. Dann beordert erneutes Krächzen ihren Blick zu Elsie zurück. Aber von ihr kann es nicht stammen. Sie hält gerade brav ihren Schnabel und schaut zum Waldrand, woran das in sanften Bodenwellen verlaufende Grundstück grenzt.
Mistie und Lady folgen ihrem Blick, jetzt auch Sophia. Alle horchen so gebannt in den Wald, dass Sophia wie aus einer Trance aufschreckt und herumfährt, als sie hinterrücks angesprochen wird.
„Prinzessin, entschuldige.“ Sammy will sie am liebsten umarmen, kann es aber nicht, weil er beide Hände voll hat, links einen Napf mit Rührei und Mehlwürmern, rechts eine Plastikschüssel voll Wasser. Damit weicht er zurück, als er registriert, wie angsterfüllt Sophias Augen darauf haften. „Oh, ich dachte, Elsie möchte vielleicht gern baden.“
Kaum hat er beides auf dem Erdboden vor der Voliere abgestellt, um deren Tür zu öffnen, klammert sich die Elster an den Maschendraht, steckt ihren Schnabel hindurch und versucht, die krabbelnden Mehlwürmer zu erreichen. Mistie schiebt ihr den Napf zu und kostet selbst daraus.
„Ich helfe dir“, sagt Sophia zu Sammy mit unterdrücktem Zittern in der Stimme und ergreift die Wasserschüssel, heftet dabei ihren Blick an die Volierentür.
„Lass nur, ich mach’ das schon“, entgegnet Sammy schnell. „Nein, lass es mich bitte tun“, beharrt Sophia. „Es kann doch einfach nicht sein, dass ich mich vor einem Schüsselchen voll Wasser fürchte. Geh rein und zieh dich um, damit wir endlich fortkommen. Ich kümmere mich um Elsie.“
Sammy zögert. „Ich weiß nicht...“ „Aber ich“, unterbricht ihn Sophia entschlossen. „Los los, du könntest schon längst wieder zurück sein.“
Sammy druckst herum. „Da ist noch was, Prinzessin.“
„Was denn?“, wundert sich Sophia, mit einer Hand die Wasserschüssel weit von sich weg haltend.
„Eine Frau mit einem Hund, im Wartezimmer.“
Wasser schwapppt über den Schüsselrand, so sehr zittert Sophias Hand schon wieder. „Jetzt? Du öffnest doch erst um vier.“
„Ja, aber sie ist so besorgt.“
Sophia sieht Sammy eindringlich in die Augen. „Ist das denn wirklich ein Notfall?“
„Nein, eher nicht, aber...“ Wie soll er ihr erklären, was er selbst nicht ganz versteht, dass diese Frau irgendwie etwas Zwingendes an sich hat, was ihm jeglichen Widerspruch verwehrt? Dass vielleicht nur er als Mann es so empfindet, kommt dem jungen Tierarzt gerade nicht in den Sinn. „Liebes, ich kümmere mich geschwind darum und...“
Sophia lässt ihn nicht ausreden. „Hier“, drückt sie ihm die inzwischen nur noch halbvolle Schüssel in die Hand und wendet sich dem Hintereingang ihrer Villa zu. „Dann kannst du das auch selber machen.“
Belämmert steht Sammy da, sieht ihr und Lady nach, die ihr folgt und sich auf halbem Weg nach Mistie umdreht. „Pass du auf ihn auf und überprüf' diese Frau.“
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