Nachdenklich zupft Mathilde an den bunten Etiketten und entscheidet sich zum Schluss für die weiße Sorte, auf die sie mit dem wasserfesten Stift ein schlankes Fragezeichen malt. Die weißen Etiketten nehmen Überhand in letzter Zeit, weil sie Fälle betreffen, in denen sowohl Fälschungen gefunden aber auch Gemälde – allesamt von Monet – entwendet wurden, die später unter ganz ähnlichen Umständen wie bei den ‚Renard‘-Fällen durch anonyme Hinweise gefunden werden konnten, sich aber wiederum alle als hervorragende Fälschungen von ‚MagPiᶒ‘ herausgestellt haben.
Als sie den dicken Ordner zuklappt und wieder ins Regal neben dem Tischchen mit dem Handarbeitszeug schiebt, schlägt die Uhr siebenmal. Leise ächzend drückt Mathilde sich aus dem Sessel empor und schüttelt wie immer nach dem Sitzen kurz jedes Bein, um die Blutzirkulation zu verbessern. Es ist Zeit für sie zum Einkaufen zu gehen.
Während sie sich den Mantel anzieht, das Kopftuch sorgsam auf ihrem lockeren graumelierten Dutt platziert und die Jutetasche samt Geldbeutel und Regenschirm aufnimmt, kreisen Mathildes Gedanken immer noch um die Meldung von der neuesten meisterlichen Fälschung. Ob sie dort wohl auch die Signatur ‚MagPiᶒ‘ gefunden haben?
Der Regen wird stärker, als sie auf die Straße tritt und sich im Windschutz der Hauswände unter ihrem Regenschirm aufmacht in Richtung Supermarkt. Beim Überqueren der Rue de Verneuil begegnet ihr die in einen knallroten Regenponcho eingehüllte Matou Bébé, die im regengeschützten Kinderwagen ihren einjährigen Sohn Hanil und Einkäufe aus der Kleinkindabteilung nach Hause schiebt. Wie immer grüßt die junge dunkelhäutige Frau freundlich, geht nach Mathildes Gegengruß jedoch aufgrund des schlechten Wetters rasch weiter.
Wegen der dicken Regentropfen lässt sich Mathilde kurz darauf im Supermarkt viel Zeit und stellt sich absichtlich hinter den beiden einzigen anderen Kunden an der Kasse an, auch wenn man ihr höflich den Vortritt anbietet.
Sie hat Glück, denn der Regenschauer nimmt bereits wieder ab, als sie erneut ihren Regenschirm aufspannt und mit der vollbepackten Jutetasche den Heimweg antritt und nach wenigen Minuten ihre rot gestrichene Haustür durch den Regen leuchten sieht wie ein Leuchtfeuer in der Nacht.
Noch immer ist nicht viel los auf der Straße, auch wenn einige Nachbarn bereits die Fenster geöffnet, Frühstück gemacht oder die Zeitung hereingeholt haben. Die Studentinnen Charlène und Fabienne von nebenan stehen mit Zigaretten in den Händen im Schutz des schmalen Vordachs auf dem kleinen Balkon ihrer Wohnung im Dachgeschoss und winken Mathilde zu, die ihnen zunickt.
Im Erdgeschoss ihres eigenen Hauses kocht Evangeline gerade starken Kaffee für ihren Mann Sébastien, der als Journalist bei Le Monde arbeitet und wie an jedem Montagmorgen im Bademantel in der Küche stehend ein Croissant isst. Mathilde nickt ihnen beiden über die halbe Gardine hinweg zu und sucht in der Manteltasche nach ihrem Schlüssel.
Gerade als sie die Tür aufschließen will, sieht sie vom Quai Voltaire kommend einen Mann herankommen, der Hut und Mantel trägt und ein Mobiltelefon am Ohr hat. Mathilde erkennt überrascht, dass es sich um Émile Frossard handelt, den sie seit ihrer Pensionierung nicht mehr getroffen hat.
„Madame Rouget“, sagt er erfreut, als er bis auf drei Meter heran ist, und lässt mit einem kurzen „einen Moment, Papa“ das Telefon sinken.
„Wie geht es Ihnen, Madame?“ fragt er dann, tritt näher und deutet lächelnd einen Handkuss an.
„Sehr gut, danke“, erwidert Mathilde ebenfalls erfreut, aber auch etwas überrascht. „Ich hoffe, Ihnen auch, Herr Kommissar. Was machen Sie schon so früh unterwegs und dann auch noch hier?“
„Ja, danke“, antwortet der Kommissar und deutet mit einem Kopfrucken hinter sich, „ich komme gerade vom Café Voltaire. Da hat irgendjemand heute Nacht die Scheiben beschmiert. Haben Sie vielleicht etwas bemerkt, Madame?“
Mathilde schüttelt den Kopf und merkt dem Kommissar an, dass er eigentlich längst weitergehen will. Nur aus Höflichkeit und in Anerkennung ihrer einstigen Zusammenarbeit steht er noch vor ihr und macht Konversation.
„Ich will Sie nicht aufhalten, Herr Kommissar“, sagt sie auch mit Hinblick auf das Mobiltelefon, auf das mehr und mehr Regentropfen perlen. „Es sei denn, Sie möchten auf eine Tasse Kaffee hereinkommen?“
„Lieb gedacht“, wehrt er freundlich ab und schüttelt die Wassertropfen vom Telefon, „ich muss leider weiter, seien Sie mir nicht böse.“
„Nicht doch“, lächelt Mathilde. „Ich wünsche Ihnen noch einen schönen und vor allem: sicheren Tag, Herr Kommissar.“
Émile Frossard nickt und verabschiedet sich mit einer leichten Verbeugung von ihr, bevor er sich das Telefon wieder im Schutze der Hutkrempe ans Ohr hält. Mathilde kann noch hören, wie der Kommissar „er ist immer noch dort, Papa“ sagt. Erstaunt bleibt sie stehen und wundert sich über die nächsten Worte, die durch den leichten Regen zu ihr herüberwehen: „Er hat sich nicht mehr bewegt seit gestern Nacht. Aber ich gehe jetzt hin und bleibe in der Nähe.“
Neugierig geworden ist Mathilde versucht, hinter dem Kommissar her zu gehen und weiter zu lauschen. Aber die Jutetasche wird von Minute zu Minute nasser und schwerer, sodass sie sich seufzend dafür entscheidet, zurück in ihre kleine Wohnung zu gehen.
Als sie jedoch die Haustür aufschließt, hört sie im Rücken das Geräusch eines sich öffnenden Fensters. Es ist Monsieur Brisac, der sein Küchenfenster einen Spalt breit geöffnet hat und nun freundlich zu ihr herunterwinkt.
„Darf ich es heute wagen, Madame?“ ruft er ihr zu.
„Sie geben wohl nie auf, Monsieur“, antwortet Mathilde leise schmunzelnd und stellt die Jutetasche in die geöffnete Tür. „Aber von mir aus, ja. Das heißt, wenn der Regen aufgehört hat. Ansonsten versinken wir noch im Schlamm des Jardin du Luxembourg.“
„Da machen Sie mir aber eine Freude, Madame“, seufzt er erleichtert. „Und der Wettergott hat hoffentlich noch ein Einsehen. Andernfalls lade ich Sie ein in die neue Ausstellung im Musée du Luxembourg, falls Sie noch nicht dort gewesen sind, Madame.“
Mathilde nickt zustimmend, winkt und betritt schnell das Haus. Sie spürt, wie ihr das Blut in die Wangen schießt, und ist heilfroh, dass Monsieur Brisac nicht sehen kann, dass sie ganz wie ein verliebter Backfisch mit glühenden Wangen, klopfendem Herzen und Schmetterlingen im Bauch in den Fahrstuhl steigt.
*****
Sein Ausweichmanöver war geglückt. Renard hatte den Verfolger abschütteln und im Schutze der Nacht wie geplant bis zur Saint-Sulpice schleichen können, wo er mithilfe seines Dietrichs eine Seitentür geöffnet und es sich in einer abgeschiedenen Ecke der großen Kirche für einige Stunden gemütlich gemacht hatte.
Der verabredete Treffpunkt war von hier aus mit der Metro in knapp zwanzig Minuten zu erreichen. Doch er musste warten, denn das Fahrgastaufkommen war am Vormittag nach der Rush Hour nicht hoch genug, sodass ein gewisses Risiko bestand, dass er beim Umsteigen an der Station Châtelet oder beim Aussteigen an der Station Rambuteau bemerkt werden würde.
Er wusste, dass er nur wenige Minuten für die Übergabe hatte, um zwölf Uhr mittags auf dem Vorplatz mit den Wasserbecken voll bunter, abstrakt moderner Kunst. Dafür wünschte er sich den Schutz der Masse, und den bot ihm nichts so effektiv wie die Schulklassen, die zum nachmittäglichen Besuch im Centrum für moderne Kunst eintrafen.
Er sah auf seine digitale Armbanduhr. Es war erst kurz vor zehn Uhr, das Centre Pompidou öffnete erst in einer Stunde. Es blieb noch genug Zeit für ein schnelles Frühstück in einem Café in der Rue de Rennes.
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