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Montag, 19. Oktober 2015.
Nachdenklich sieht Mathilde Rouget in den regnerischen Morgen hinaus. In der Rue de Beaune ist um diese frühe Uhrzeit kaum ein lebendes Wesen zu sehen. Nur Monsieur Brisac von gegenüber ist bereits auf den Beinen und sogar schon beim Bäcker in der Rue de Lille gewesen; denn er trägt eine weiße Papiertüte mit einem Baguette unter dem Arm, als er die grüne gestrichene Haustür aufschließt und dahinter verschwindet.
Es dauert ein paar Minuten, aber dann kann Mathilde hinter den Gardinen des bodentiefen Fensters der Wohnung im ersten Stockwerk Bewegung ausmachen und einen Blick auf die kleine Küche erhaschen, als Monsieur Brisac für die Dauer von fünf Sekunden den Vorhang zur Seite zieht um das Fenster auf Kipp zu stellen. Wie immer hebt er kurz die Hand und winkt, auch wenn er Mathilde hinter den Gardinen ihres Küchenfensters im zweiten Stockwerk nicht sehen kann. Aber er weiß, dass sie dort sitzt und die Straße beobachtet.
Er weiß auch, dass es noch eine halbe Stunde dauern wird, bis Mathilde in den engen Fahrstuhl steigen, hinunter ins Parterre fahren und zum Supermarkt in der Rue de Bac gehen wird. Denn heute ist Montag, Ruhetag im Museum.
Erst morgen wird Mathilde wieder den halben Tag in dem prachtvollen Bau an der Rue de la Légion d’Honneur verbringen und unter der historischen Bahnhofsuhr als ehrenamtliche Aushilfe beim Beaufsichtigen der Besucher unterstützen. Wie jeden Montag freut sie sich auf den Beginn der neuen Woche, Dienstag bis Sonntag – und auf ihren täglichen Morgen-Rundgang durch die Ausstellung, die sie immer besonders lange bei Renoir und natürlich bei Monet verweilen lässt.
Mit einem leichten Ächzen lässt sie sich in ihren Sessel zurücksinken und nimmt die Zeitung auf, die sie stets nur am Montag erhält und nach dem Frühstück mit entkoffeiniertem Kaffee, Croissant und Erdbeermarmelade liest.
Der Leitartikel handelt von einem bilateralen Treffen zwischen dem Staatspräsidenten und der deutschen Kanzlerin, die sich mit einer kleinen Abordnung der jeweiligen Wirtschaftsministerien im Schloss Versailles über ein neues Handelsabkommen austauschen. Mathilde kann sie sich regelrecht vorstellen, wie sie durch den großen Spiegelsaal gehen und sich in einem der mit Seidentapeten ausgekleideten Salons niederlassen. Ob etwas Vielversprechendes bei diesen Gesprächen herauskommt, wird sich wohl erst nach einiger Zeit zeigen.
In weitaus näherer Zukunft ist, dem kurzen Artikel im unteren Teil der Titelseite zufolge, mit der Ehrung eines weiteren Résistance-Kämpfers durch den Staat zu rechnen. Es verwundert Mathilde nicht im Geringsten, dass es sich dabei um einen weiteren Angehörigen der Familie Ardant handelt.
Kaum eine Woche im Amt hat der neue Bürgermeister Édouard Ardant bereits im April vergangenen Jahres versucht, seinem einen Monat zuvor im Alter von fünfundneunzig Jahren verstorbenen Vater die Ehrung als Held der Résistance posthum zu verleihen.
Da dies nicht zum Erfolg geführt hat, probiert er es jetzt offenbar mit seinem Onkel, der gut zwanzig Jahre lang Stadtkämmerer gewesen ist, bevor er Anfang der Achtziger Jahre von einem anarchistischen Attentäter angeschossen und querschnittsgelähmt in den Rollstuhl gebracht worden ist.
Kopfschüttelnd blättert Mathilde weiter. Die Ardants sind sich wohl für nichts zu schade. Nicht genug damit, dass sie seit mehr als fünfzig Jahren hohe Ränge in Politik und Militär innehaben; sie tun sich auch hervor als Veranstalter extravaganter Partys und sehr öffentlichkeitswirksame Mäzene der Pariser Kunstszene. Die Gemäldesammlung in ihrem Landhaus in der Bretagne zählt zu den bedeutendsten des Landes. Ob an den Gerüchten, dieser Schatz sei teilweise unter nicht ganz legalen Umständen zusammen getragen worden, etwas dran ist oder nicht – es würde Mathilde nicht verwundern, auch wenn es sie nicht im Geringsten interessiert.
Bemerkenswerter ist da die zweite César -Nominierung von Clarissa Sinclair, der mehrfachen Oscar-Preisträgerin aus Großbritannien, für ihren neuesten Film La Rose Parisienne , eine europäische Kinoproduktion mit Drehorten in Paris, Berlin und London, die in den letzten Monaten auch hier in der Stadt für Schlangen an den Kinokassen gesorgt hat. Mathilde überfliegt das kurze Interview mit der Britin, die sich bescheiden und sehr sympathisch gibt, wenngleich sie sich kritisch über die französischen Filmfestspiele und die umstrittenen Preisträger äußert – fast alle sind Protegés der Familie Ardant.
Auf den nächsten Seiten der Zeitung findet sich nichts, das Mathildes Blick für mehr als einen kurzen Moment stocken lässt. Sie interessiert sich nicht für den neuesten Sport-Skandal, der nach einem Radsportprofi nun auch einen jungen Schwimm-Star, einen alternden Fußballspieler von Olympique Marseille sowie einen erfolgreichen Mehrkämpfer des Dopings überführt.
Auch der Verdacht, dass die Jury bei den diesjährigen Filmfestspielen in Cannes bestochen worden ist, hält Mathilde nicht länger auf als ein paar Sekunden. Sie will die Zeitung schon zuschlagen, als ihr Blick auf die Randspalte der letzten Seite fällt, in der Notizen aus aller Welt abgedruckt sind.
Meisterwerk gefälscht
New York City.Nach dem dreisten Einbruch in das Metropolitan Museum of Art ist nun ein weiterer Monet als Fälschung entlarvt worden.
Das Meisterwerk Houses of Parliament, Sunlight Effect (1903) aus der französischen Sammlung des Brooklyn-Museum stammt ebenso wie das aus dem MET entwendete Werk gleichen Namens aus Claude Monets Londoner Phase als Teil einer Serie von achtzehn verschiedenen Ansichten des britischen Parlaments im Westminster-Palast.
Experten des FBI haben weiterhin keine heiße Spur noch stichfeste Hinweise auf den oder die Täter, denen es auch gelungen ist, ein Monet-Gemälde aus derselben Serie aus der National Gallery of Art in Washington, D.C., zu entwenden.
Seufzend greift Mathilde zu ihrem Handarbeitskorb, der wie immer auf einem kleinen Tischchen neben ihrem Sessel steht. Vorsichtig befreit sie eine Schere und schneidet den Artikel aus, um ihn zu den anderen in den Ordner zu heften.
Auch wenn sie nur in der Verwaltung der Pariser Polizei gearbeitet hat, so hat sie sich doch stets für Fälle mit Kunstfälschung oder Kunstdiebstahl interessiert. Bei den Querverweisen mit bunten Klebe-Etiketten stockt sie kurz; ‚ Monet ‘ und ‚ Fälschung ‘ sind einfach zuzuordnen, aber wer ist es gewesen – ‚Le Filou‘, ‚J‘, ‚Gustave‘, ‚Renard‘ oder jemand ganz anderes?
Fälschung passt eigentlich eher zu ‚Le Filou‘, wenn der Artikel Recht hat, den sie vor einigen Jahren im Figaro gelesen hat. Aber der höchst geschickte Kunstdieb ist nach einer legendären Karriere in England von Scotland Yard gefasst und zu mehreren Jahren Gefängnis verurteilt worden.
Monet gehört zur Lieblingsbeute von ‚J‘, aber der hinterlässt bei seinen Coups keine Fälschungen. ‚Gustave‘ ist nach Mathildes Recherchen spezialisiert auf Picasso, Dalí und moderne Kunst bis zu einer Größe von zweieinhalb Metern.
Im Gegensatz dazu nimmt ‚Renard‘ offenbar alles mit, was er bekommen kann. Jedenfalls kann Mathilde ihm mehr als zwölf Diebstähle in den vergangenen drei Jahren zuordnen, bei denen Picasso, Chagall, Gauguin, Cézanne, Turner, Liebermann, Nolde, Klee, Renoir, Manet und Monet gestohlen worden sind. Die meisten davon sind in Privatsammlungen in Südamerika, Russland und Arabien oder bei Zollkontrollen in Frankfurt, London und Stockholm wiedergefunden worden, nachdem jemand der Polizei des jeweiligen Landes einen nur mit einer Vogelfeder signierten Tipp gegeben hat.
Drei Gemälde – alle von Monet – sind nach Zahlung eines sechsstelligen Lösegeldes an die Museen und Galerien zurückerstattet worden. Erst danach hat sich herausgestellt, dass es sich um Fälschungen gehandelt hat: an unauffälliger Stelle signiert mit ‚MagPiᶒ‘, der in Mathildes Sammlung der Meisterfälscher ist. Wie in der Krimi-Komödie mit Audrey Hepburn und Peter O’Toole, die in Paris eine Statuette stehlen, hat der Gemäldefälscher nicht nur authentische Leinwand, Farben und Firniss verwendet, sondern auch ‚Dreck‘ und andere Aspekte für die Echtheitsbestimmung meisterlich zu imitieren verstanden.
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