~ Ada ~
Gerade hatte auf seinem Gesicht noch ein Ausdruck der Glückseligkeit gelegen, als er an die größten Maler gedacht hatte, aber nur wenige Sekunden später wirkte Pater Michael ernst und nachdenklich. Verwundert darüber, was in seinem Kopf vor sich ging, runzelte ich die Stirn und beobachtete ihn aufmerksam.
„Es gab natürlich nicht nur Schönes und Gutes, das die Menschheit erlebte,” begann er leise zu erzählen. „In den Jahren 1347 bis 1353 verlor ich achtzig Prozent meiner Gemeinde durch die große Pestilenz. Die Menschen kamen zu mir und baten bei mir um Gnade. Sie dachten, Gott würde sie mit dieser Seuche für ihre Sünden bestrafen. Wir richteten hier ein Lager für die Kranken ein, denn nirgendwo gab es mehr Platz für sie. Ich half, wo ich konnte. Aber ich bin kein Untoter, auch wenn ich schon lange Zeit lebe. Mein Herz schlägt, und ich werde müde und muss des Nachts schlafen. Bis zur Erschöpfung half ich den Pflegern und Ärzten bei der Versorgung der Menschen und musste am Ende doch bei fast allen die letzte Ölung vornehmen.”
Ich sah, wie sich sein Hals reckte und er mühsam schluckte. Die Erinnerung an die vielen Menschen, denen er in ihren letzten Momenten auf unserer Erde beigestanden hatte, machte ihn noch heute sehr betroffen, und es fiel ihm schwer, seine Gefühle zu verbergen. Ich wollte meine Hand nach ihm ausstrecken und ihn berühren, ihm zeigen, dass es mir leidtat, was damals geschehen war und was er hatte mit ansehen müssen. Doch ich konnte es nicht. Ich konnte es einfach nicht! Etwas in mir sträubte sich dagegen, ihn anzufassen. Ich wusste nicht, woher es kam oder wieso ich ein Problem damit hatte, ihn zu berühren oder von ihm berührt zu werden. Bevor er mir von seinem Leben erzählt hatte, bevor er mir verraten hatte, wie steinalt er tatsächlich war, hatte es mich nicht im Geringsten gestört, wenn er mich mit seinen Händen anfasste, und ich hatte ebenso wenige Hemmungen gehabt, ihn zu berühren. Also, warum jetzt? Es ist ja schließlich nicht so, dass sich deswegen irgendetwas an dem Menschen, Pater Michael, geändert hatte. Er war immer noch derselbe Mann, den ich von ganzem Herzen liebte und der mit mir unbedingt die Geschichte seines Lebens und alles, was er erlebt und getan hatte, teilen wollte. Wie sagt man doch immer: Das Alter ist nur eine Zahl. Ich fühlte mich auch nicht wie Mitte Zwanzig, sondern eher wie die Sechzehnjährige, die sich in einem kurzweiligen Anfall von Farbenblindheit die Haare pink gefärbt hatte. Der Padre sah auch nicht aus wie eintausend Jahre. Er wäre eigentlich das perfekte Werbegesicht für Anti-Falten-Cremes!
„Ada, altes Mädchen, gewöhne dich besser an den Gedanken, dass dein Liebster uralt ist,” dachte ich und nahm mir vor, an meiner Einstellung zu arbeiten, schließlich ist es doch egal, wie alt jemand ist. Das Einzige, was zählt, ist die Liebe zum Auserwählten.
Doch als Pater Michael mit seiner Erzählung fortfuhr und ich sah, dass ihm die Erinnerungen an weniger schöne und dramatische Ereignisse arg zu schaffen machten, konnte ich trotzdem nicht über meinen Schatten springen und ihm beruhigend eine Hand reichen. Es wäre keine große Sache gewesen, den Arm auszustrecken. Aber in diesem Moment fühlte er sich unsagbar schwer an. Regungslos blieb er auf meiner Bettdecke liegen, und ich fing an, mich wegen meines Denkens und der Hemmungen, die ich empfand, zu schämen. Mein Kopf wollte die simple Geste einer Berührung, aber mein Körper sträubte sich dagegen. Die beiden stritten sich darüber, was richtig und was falsch war. Ich konnte ihr Gezanke nur mühevoll ausblenden und musste mich anstrengen, um Pater Michaels Worte noch hören zu können.
„Im ersten Weltkrieg kamen viele Mitglieder meiner Gemeinde zu mir und suchten Schutz im Hause Gottes. Es war erstaunlich, wie tapfer die St. Mary’s Kirche durchhielt. Die Bomben taten ihr nichts an. Wie eine unzerstörbare Bastion hielt sie stand und beschützte alle, die hinter ihren Mauern ängstlich auf das Ende des Krieges warteten, während um uns herum alles in Schutt und Asche zerfiel. Doch wieder verlor ich viele mir bekannte und geliebte Menschen. Das Gleiche geschah etwa zwanzig Jahre später noch einmal. Und wieder beschützte uns diese Kirche wie eine Mutter ihr verängstigtes Kind,” sagte der Padre mit leiser Stimme. Langsam hob er den Kopf und schaute sich in meinem Schlafzimmer um. Sein abwesender Gesichtsausdruck verriet mir aber, dass er nicht wirklich den Raum vor sich sah, in dem wir gerade saßen, sondern er sich das Mittelschiff mit den grauen Steinplatten, den hohen Säulen und Heiligen-Statuen, dem Taufbecken und dem Altar vorstellte. Es gab so viele Dinge, die in der Kirche kunstvoll gearbeitet waren und Zartheit und Schönheit boten wie die Verzierungen am Taufbecken oder dem Altar. Doch die massiven Steinwände und die mächtigen Säulen strahlten eine unendliche Kraft und einen unerschütterlichen Willen aus, mit dem die St. Mary’s Kirche die Menschen beschützte, die zu ihr kamen und sie um Hilfe baten. Pater Michael wusste das. Er hatte ihre Macht miterlebt, und noch nie zuvor hatte ich so viel Bewunderung für sein Zuhause auf seinem Gesicht gesehen. Er liebte die St. Mary’s Kirche. Sie bedeutete ihm alles. Ich war mir sicher, dass er jedem, der versuchen würde seiner Kirche etwas anzutun, den Kopf zurechtrücken oder mit ihm gar Schlimmeres anstellen würde.
~ Pater Michael ~
„Wir reden schon seit Stunden. Es wird Zeit, dass du dich etwas ausruhst,” sagte ich. Mir war aufgefallen, wie klein Adas Augen geworden waren, je länger meine Erzählung andauerte. Und als würde sie mir meinen Verdacht bezüglich ihrer Müdigkeit bestätigen, gähnte sie. Eilig schlug sie sich die Hand vor den Mund und versuchte, es zu verstecken. „Tut mir leid,” entschuldigte sie sich für dieses Zeichen ihrer Erschöpfung und blickte auf ihre Bettdecke hinunter. Anscheinend dachte sie, dass ich ihr Gähnen als unhöflich abtun könnte. Dem war jedoch nicht so. Wahrscheinlich würde uns beiden eine Pause guttun. Ada brauchte Ruhe und musste sich ausruhen. Ich musste mich ebenfalls von den letzten Stunden erholen, in denen ich Ada alles über mich erzählt und Geheimnisse offenbart hatte, von denen sonst niemand wusste. Bisher hatte es nur einen Eingeweihten gegeben: mich. Nun waren es drei: Ada, ich und die Mauern der St. Mary’s Kirche. Das Erzählen hatte mich zwar nicht körperlich angestrengt, dennoch fühlte ich mich erschöpft und leer und brauchte wohl ebenso etwas Abstand wie Ada, damit ich über alles nachdenken und herausfinden konnte, wie ich damit umgehen sollte. Ich hatte gedacht, das Teilen der Geschichte meines Lebens würde uns einander näherbringen. Doch von dieser Wirkung spürte ich rein gar nichts, und bereits jetzt überlegte ich, ob ich ihr noch mehr erzählen sollte oder ob es genug war. Was sollte ich ihr auch noch erzählen? War nicht alles, was ich ihr jetzt noch sagte, bedeutungslos, jetzt wo sie über den dunkelsten Fleck auf meiner Seele Bescheid wusste? Und wenn ich ihr noch so viel von den guten Taten, die ich vollbracht hatte, erzählen würde, sie würden die Schlimmste nicht ausmerzen können, und in Adas Hinterkopf würde stets jedes Wort umhergeistern, das ich heute gesagt hatte. Für immer.
„Ist schon gut, Ada. Du brauchst dich nicht zu entschuldigen. Ich bin es, der dich um Verzeihung bitten muss, weil ich kaum einen Gedanken daran verschwendet habe, dass dich unsere Unterhaltung anstrengen könnte. Bitte verzeih mir meine Unachtsamkeit,” bat ich sie und sah ihr in die Augen. Sie begannen feucht zu glänzen, und ihre Kiefer pressten sich fest aufeinander, während sie gegen ein weiteres Gähnen ankämpfte. Ich musste über ihren kläglichen Versuch, es vor mir zu verbergen, lächeln. „Das war mein eindeutiges Stichwort,” bemerkte ich und stand auf. Ich lief um das Bett herum und stellte mich auf dessen rechte Seite.
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