~ Ada ~
Es war keine Lüge, als ich sagte, dass ich ihn verstand. Ich tat es wirklich. Ich verstand seine Beweggründe. Allerdings muss ich gestehen, dass ich es mir nur schwer vorstellen konnte, selbst so etwas zu tun. Mir fielen nur zwei Menschen auf dieser Welt ein, für die ich zur Mörderin werden würde und bereits geworden war: Pater Michael und meine Tochter. Aber als ich Pater Michael gerächt hatte, waren die Untiere der Nacht durch meine Hand getötet worden und keine Menschen. Das war etwas völlig anderes. Oder?
Ich war über sein Geständnis schockiert. Ich hätte ihm so etwas nicht zugetraut. Ich wusste, dass er manchmal aufbrausend sein konnte. Wenn er wütend war, machte er mir Angst. Er hatte auch mir bereits oft mit Worten wehgetan. Aber nach allem, was er mir eben erzählt hatte, wusste ich, dass ich das gesamte Ausmaß seines Zorns, seiner Wut noch nicht einmal annähernd kennengelernt hatte. „Zum Glück!“, musste man da wohl sagen. Ich war froh darüber, dass ich weitaus öfter seine liebevolle, herzliche, sanfte und fürsorgliche Seite zu Gesicht bekommen hatte. In meinen Augen war er ein guter Mann und nicht der kaltblütige Killer, der Rache genommen hatte. Doch ich würde niemals vergessen, was ich in diesem Zimmer gehört hatte, und ich hatte keine Ahnung, ob und inwiefern es mich beeinflussen würde. All das war vor so unglaublich langer Zeit geschehen. In den letzten Stunden hatte ich so wahnsinnig viele neue Informationen von ihm erhalten. Es war eine einzige riesengroße Welle, die über mich hinweggerollt war. Noch immer spürte ich ihre Kraft und wie sie mich niederdrückte. Wie sollte ich mit all diesen Informationen nur zurechtkommen? Wie konnte ich verarbeiten, was er mir erzählt hatte? Ich kannte die Antwort auf diese Fragen nicht. Nur die Zeit würde mir dabei helfen, mit allem klarzukommen. Sei es mit seinem wahren Alter, dem ungestraften Wüten der Monster außerhalb meiner Stadt oder die Tatsache, dass Pater Michael eine Gruppe von Männern im Alleingang, ohne mit der Wimper zu zucken, ermordet hatte. Ja, es würde eine Weile dauern, bis ich das verdaut hatte.
„Was passierte danach?”, fragte ich ihn mit monotoner Stimme und starrte weiterhin auf meine Hände hinunter. Ich spürte Pater Michaels Blicke auf mir. Er beobachtete mich von der Seite. Für einen kurzen Augenblick huschten meine Augen nach links, und ich sah sein verschwommenes Gesicht. Hastig richtete ich meine Augen wieder geradeaus und dachte darüber nach, was in seinem Kopf vor sich ging, weil ich so schnell das Thema gewechselt hatte. Aber ich wollte einfach nicht weiter über das reden, was er in dem Wald von Brocéliande getan hatte. Dazu gab es nichts weiter zu sagen. Ich fand es mutig von ihm, dass er es gestanden hatte. Es zeugte von seinem Vertrauen in mich. Nichtsdestotrotz war ich immer noch in einer Art Schockzustand, und bis ich diesen verwunden hatte, wollte ich nicht mehr über diese Angelegenheit sprechen.
„Als wir schließlich hier ankamen, war mit dem Bau der St. Mary’s Kirche bereits begonnen worden. Die Baumeister waren schon sehr weit mit ihrer Arbeit, und die unterirdische Anlage gab es ebenfalls schon. Allistair blieb natürlich hier. Als die Arbeiten beendet waren, wurde die Kirche geweiht, und ich erhielt die Priesterweihe. Möchtest du wissen, wie es vonstattenging?”, fragte er mich zaghaft. Ich nickte. „Zur gleichen Zeit, als die St. Mary’s Kirche fertiggestellt wurde, hielt sich der Bischof von Chartres, Fulbert, hier in der Gegend auf. Man kann es als Zufall bezeichnen oder Schicksal, dass er zu dem Tag, an dem ich geweiht werden sollte, ganz in der Nähe war. Fulbert war nämlich ein ehemaliger Schüler von Gerbert von Aurillac, den ich unter dem Namen Silvester II vor zehn Jahren als Papst kennengelernt hatte. Ich bin mir nie sicher darüber gewesen, ob es so vorhergesehen war, aber irgendwie schien sich damit ein Kreis zu schließen, der einst im Lateranpalast begonnen worden war. Es war für mich eine große Ehre, geweiht zu werden. Doch es war noch Ehrfurcht einflößender, dass der Bischof von Chartres die Weihung vornahm, und ich konzentrierte mich voll und ganz auf seine Stimme und die Worte, die er sagte, als er mich über meine Pflichten als Priester belehrte: ,Opfere, weihe, predige, stehe vor und taufe.‘ Dann musste ich mich flach auf den Boden zu den Füßen des Bischofs legen und rief die Heiligen des Himmels an, mir ihren Segen zu geben und auch den des Bischofs. Anschließend erhob ich mich wieder, Fulbert von Chartres legte mir seine Hände auf das Haupt, wodurch er mir ein unsichtbares Zeichen verlieh, das ich niemals verlieren würde, ganz gleich, wie groß die Versuchung auch sein mag.”
Seine Stimme war zu einem Flüstern geworden, sodass die letzten Worte nur zart gehaucht herauskamen. Verwundert darüber wandte ich den Kopf ein Stück zur Seite und entdeckte das sanfte Lächeln auf Pater Michaels Gesicht. Er gestattete sich einen Moment, in dem er mich einfach nur betrachtete, und ich sah die Liebe und das Glück in seinen Augen. Ich fragte mich, was in seinem Kopf vorging, während er mich so ansah. Aber eigentlich gab es nur eine Erklärung, die im Zusammenhang mit „Versuchung” zutreffend sein konnte: ich. Ich war für ihn die personifizierte Versuchung, der er erlegen war und wegen der er trotz allem dieses Brandzeichen, oder wie er es bezeichnete, nie verloren hatte. Ich freute mich, dass er es anscheinend nicht mehr als ganz so tragisch ansah, dass er sein Gelübde gebrochen hatte, aber so wie er mich in diesem Moment ansah, war es mir unangenehm, und es machte mich nervös. Ich drehte meinen Kopf herum und richtete meinen Blick wieder nach vorn.
Pater Michael schien meine Verunsicherung zu spüren, denn ein plötzliches Räuspern zerriss die Stille, und er beendete den Augenblick des Schweigens. „Nachdem ich das Zeichen erhalten hatte, sprach der Bischof ein Gebet und ein Chor begann zu singen. Doch dann brach der Bischof abrupt ab und sprach das Weihegebet. Ich erhielt die priesterlichen Gewänder, und die Salbung der Handinnenflächen erfolgte. Chrisma, ein Olivenöl, das mit duftendem Balsam vermischt worden war, wurde zuerst auf die Daumen und Zeigefinger gegeben, dann wurden die Innenflächen meiner Hände mit dem Öl gesalbt. Die ganze Zeit über war die Luft erfüllt von dem Gesang des Chors, dem Duft des Salbungsöls und dem Gebet, das der Bischof leise zu mir sprach. Als er geendet hatte, schloss er meine Hände und band sie mit einem Leinentuch zusammen. Es war üblich, dass neu geweihte Priester dieses Tuch an ihre Mutter weitergeben, die für den Rest ihres Lebens darauf aufpassen und es sogar mit ins Grab nehmen würde. Doch meine Mutter lebte bereits seit Jahren nicht mehr. Sie wusste nichts davon, dass ihr Sohn nun in den Stand des Priesters getreten war, und ich hatte nicht einmal eine Ahnung davon, ob mein Vater ihre Überreste begraben hatte. Statt es ihr zu überreichen, behielt ich es und verwahre es seitdem in meinem Büro. Den Rest der Messe verfolgte ich von meinem Platz auf einer der hölzernen Bänke aus. Als der Bischof ein weiteres Gebet zu Ende gesprochen hatte, brachte ich mein erstes Opfer dar. Dann sprach ich das Apostolische Glaubensbekenntnis… ,” sagte er, aber an dieser Stelle musste ich ihn unterbrechen.
„Das was?”, hakte ich nach und sah ihn fragend an.
„Das Apostolische Glaubensbekenntnis,” wiederholte Pater Michael es noch einmal ganz langsam für mich. „Spricht man es, bekennt man sich zum christlichen Glauben. Seine Bedeutung ist von Land zu Land unterschiedlich. In manchen Ländern spricht man es morgens und abends. In anderen wird es an Sonn- und Feiertagen gesprochen, und es ist auch der Beginn des Rosenkranzgebetes,” erklärte er mir, wobei er den Rosenkranz seiner Mutter, der sichtbar auf dem Stoff seiner Soutane ruhte, zärtlich mit den Fingern berührte. „Vor dem Bischof von Chartres musste ich es auf Latein rezitieren. Aber übersetzt lautet es:
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