Eines Sonntags lernte ich einen freundlichen Brasilianer kennen, einen distinguierten Herrn, dessen Weltbild sicherlich rissig geworden wäre, hätte er von unseren Eskapaden an der Elendsküste erfahren. Er lud den Zweiten, den Dritten und mich zu einer Tour ins Landesinnere ein, zeigte uns sein Haus in Fortaleza sowie seinen Landsitz. Am eindrucksvollsten war für mich der Besuch bei einer alten, weißhaarigen Schwarzen, von der unser Gastgeber stolz berichtete: „Sie ist uralt. Sie muss weit über neunzig Jahre alt sein. Und sie wurde als erstes "freies" Kind einer Sklavin meines Urgroßvaters geboren, also nach der Aufhebung der Sklaverei in Brasilien. Aber ihr Leben lang blieb sie unserer Familie als Kindermädchen treu ergeben..."
Das war einer jener Augenblicke, da mir Geschichte, dieses stinklangweilige Paukfach von einst, in ihrer ganzen Abenteuerlichkeit verständlich wurde. Die Sklaverei im Kaiserreich Brasilien war gerade mal vor 74 Jahren abgeschafft worden, und zwar 1888. Allerdings hatte man 1871 ein Gesetz verabschiedet, demzufolge Kinder von Sklavenmüttern von Geburt an frei waren. War die freundliche alte Frau also in jenem Jahr als erste "Freie" geboren worden, so war sie immerhin noch siebzehn Jahre lang von Sklaven umgeben, einschließlich ihrer Eltern, aufgewachsen! Die würdevolle Greisin, die vom Alter geadelte Tochter afrikanischer Sklaven, die uns selbstgebackenes klebriges Kokosgebäck schenkte, ließ die Vergangenheit eines halben Kontinents einen willkürlichen Moment lang lebendig werden!
Wir machten aber auch vom Fischerdorf hinter dem alten Mucuripe-Leuchtturm aus mit den Mädchen Touren. In einem altersschwachen Jeep, dem in diesem Teil Brasiliens am häufigsten anzutreffenden Fahrzeug, erkundeten wir das regenzeitgrüne Hinterland. So setzen sich meine Erinnerungen an Fortaleza nicht nur aus wüsten Kaschemmen-Abenteuern zusammen. Ich entsinne mich des bleifarbenen Atlantikwassers, das an eine lange, einsame und dünendurchwogte Sandküste brandete. Große dreieckige Segel schwebten über der Kimm: "Jangadas", die indianischen Floßboote der Fischer. Auf den zusammengebundenen Holzstämmen standen sie bis zu den Knöcheln im Wasser und waren am Horizont nur noch als fliegende Segel zu erkennen, waghalsige Vorreiter heutiger Windsurfer
Und dann die armseligen Dörfer, die Villen im Grünen. Überall ragten schlanke, hohe Copernicia-Palmen in den regenschweren Himmel, knatterten die wachshaltigen Wedel der Carnauba-Palmen im Wind. Mancher Palmenhain stand regelrecht im Wasser, das nur wenige Wochen lang in solchem Überfluss vom Himmel fiel.
Gedankenstrudel... Wirbelnde Farbkleckse...
Zurück zum laufenden Tonbandgerät, das immer noch unsere Storys, vor allem Rolfs Rückblenden aufzeichnete: „... Fortaleza ist für mich der schönste Hafen. Drei, vier Schiffe an der Pier – Hafen voll! Und kamst du nicht mehr durchs Tor, dann biste übern Zaun geklettert, über die Sanddünen ab ins Dorf. Genau am Zaun, da stand so ´ne alte Bierbude. Da lag ´n Dampfer, die "Clarita S", werde ich nie vergessen den Namen. Die Jungs hatten nichts mehr zu saufen. Da sind die beigegangen, habe ´ne Vorleine klargemacht, einmal um die Bude gezogen, und dann das ganze Ding, mit allem Inventar, stumpf vor ´n Süll gezogen, vor `n Poller, ne! Der Macker, der kam morgens und hat seine Hütte gesucht. Da stand die hundert Meter weiter weg!“
„Nichts kaputt gegangen an der Bude?“, fragte ich.
„Klar, der hat tüchtig gemeckert. Das kostete dann für jeden zehn Dollar, was da kaputt gegangen war. Aber wir sind dann alle beigegangen und haben dem ´ne neue Bretterbude hin gerammt. Wir lagen ja immer so acht bis vierzehn Tage, weil wir Stückgut fuhren. Der Macker war glücklich, der sagte nachher: "das ist meine neue Hütte, das ist mein neues Heim!"...“
Anschließend fällt Rolf noch eine Episode aus jenen Zeiten Anfang der Siebzigerjahre ein: „... In Itaquim, dem neuen Hafen, ohne Gummistiefel kamst du da nicht an Land. Und dann, mitten im Busch, war so ´ne Kneipe, "Hawaii-Hotel". Da stand ´n riesiger Kühlschrank drin. Wenn der leer war, war Feierabend. Hinten drin so ´n paar Fickställe, ne, und dann war da immer schwer was los. Und jeden Morgen, wenn wir nach Hause gingen – wir waren immer mit fünf Mann unterwegs -, kamen wir bei so ´m alten Opa vorbei, der sich da ´ne Hütte baute. Die haben wir jeden Morgen einplaniert! Jeden Morgen das Ding wieder abgerissen!“
„Ja, warum um Gottes Willen?“
„Aus Spaß! Der hatte immer hinter uns her geschimpft – also machten wir seine Hütte platt!“
Wir waren empört, so kannten wir unseren Kumpel Rolf eigentlich gar nicht. Aber er bestand darauf, dass der Alte sie geärgert habe und erzählte weiter: „Wir fuhren damals Spundwände für den alten Hafen. Und als es hieß, wir würden bald auslaufen, da nahmen wir uns mit sechs, sieben Mann einen freien Tag. Wir waren damals noch dreißig Mann Besatzung. Jedenfalls, wir dann ab in den Busch – und haben dem Opa die Hütte aufgebaut, so ´n richtig solides Ding! Wir waren dann ein Herz und eine Seele...“
Nahezu fünfeinhalb Monate war es her, dass ich verzweifelt irgendwelche Kleinigkeiten ins sowieso schon übergewichtige Fluggepäck gestopft hatte. Da hatte ich einen Pulli aus dem strapazierten Koffer gerissen, um für ein oder zwei Taschenbücher Platz zu schaffen, war mir zum soundsovielten Male klar darüber geworden, dass ich die meisten Klamotten letztendlich doch nicht brauchen würde an Bord, weil das Klima einen Strich durch die Rechnung machen, oder der Dampfer vor Dreck starren würde, und hatte gegen das Bedürfnis angekämpft, einfach loszuheulen...
Seefahrt – und Tränen?
Seefahrt, das ist doch kernige, tätowierte, bierbauchbrutale Mannhaftigkeit, piratengesichtiges Trotzen gegen Wind und Wetter, pimmelpralles Strotzen in den liederlichen Armen exotischer Schönheiten irgendwo da hinten zwischen Rio und Hawaii, tjaja, Freddy und Hans Albers, der ganze Tinnef mit den Johnnies und Heins, dieser blauäugige und blondgelockte Matrosenkrampf!
Seefahrt, das ist zwar auch Wind und Wetter. Das sind die Kaventsmänner, die ganze Schiffe zu Schrott hauen. Das sind Palmen und Spelunken voller Fahrensleute, denen die samthäutigen Mädchen die Sinne verwirren und die letzte Heuer aus der Tasche ziehen. Seefahrt, das waren Trippersorgen – und ist die grausame Angst vor Aids am nächsten Morgen. Das ist der fristlose Sack, weil man mal ausgeflippt ist. Das sind die Prügelei am Weihnachtsabend, der beschissene Fraß eines Dreckspäckchens von Koch, die Intrigen eines ewig unter Dampf stehenden Bootsmanns, der Krakeel eines Kapitäns oder Chiefs, für die das Menschsein an der Gangway aufhört.
Seefahrt. Markig, männlich, außergewöhnlich, wild, abenteuerlich, packend und fernwehtrunken...
Seefahrt ist vor allem Abschiednehmen!
Abschiednehmen von Frau und Kindern, von Eltern, einer Braut, einem Mädchen, von liebgewordenen Dingen, Büchern, CDs, von Freunden oder Fußballkumpels, vertrauter Umgebung, von lächerlich erscheinenden Kleinigkeiten.
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