Jedenfalls, die schwarze Wanne hier war ihr Nachtquartier und ich musste sie arg erschreckt haben. Vermutlich genauso, wie sie mich erschreckt hat.
„Alles in Ordnung“, rief ich gedämpft und noch etwas zittrig an Stimme. „Ich bin nicht von der Museumsaufsicht!“ Ich hielt einen Moment inne und fuhr dann fort: „Aber Sie sollten nun Ihr Quartier verlassen, denn die haben das sicher nicht so gern ...“
Nichts rührte sich.
Dann musste ich plötzlich an den nächtlichen Alarm denken. War das etwa die Verursacherin? Aber was hat sie im Mumiendepot gesucht? Vielleicht wollte sie in eine Holzkiste schlüpfen? Wenn man keine Berührungsängste mit Trockenfleisch hat, ist eine Holzkiste sicher gemütlicher als der kalte Steinsarkophag des Nes-schu-tefnut, oder wie der Kerl hieß, dem er mal gehörte.
Ich hatte ja meine eigene Erfahrung in solchen Dingen. Einmal musste ich eine ganze Nacht im großen Turm von Schloss Neuschwanstein verbringen – auf kalten Steinstufen, versteht sich. Man hatte mich unabsichtlich eingeschlossen, weil ich mich von meiner Schülergruppe entfernt hatte, um auf eigene Faust die Zimmer und Kammern zu erkunden, die man uns vorenthalten hatte; so auch das Innere des geheimnisumwitterten Turms, den noch kein Tourist erforscht hat, außer meiner Person … natürlich!
Ich war früher ein großer Fan von derlei Unternehmungen, und manchmal gingen sie eben schlecht aus, so wie eben im bayerischen Nationalheiligtum.
Jedenfalls wusste ich, wie es sich anfühlt auf kaltem Stein zu nächtigen. Keiner macht so was freiwillig.
War sie ein verschlepptes Mädchen aus dem Osten? Gezwungen zur Prostitution und auf der Flucht vor einem Zuhälter? Und weil meine Natur immer Mitleid empfand mit Menschen, die von der Gesellschaft schlecht behandelt wurden, machte ich der Schläferin einen Vorschlag; in der Hoffnung, sie könnte mich verstehen, falls nicht, hätte ich es dann noch auf Englisch versucht – Bulgarisch oder Rumänisch hatte ich nicht im Repertoire.
„Kommen Sie raus, ich spendiere uns ein Frühstück!“
Ich wartete.
„Wollen Sie Tee oder Kaffee?“, versuchte ich es weiter, da sich im Steinsarg noch immer nichts rührte.
„Wollen Sie vielleicht ein paar Frankfurter essen – zum Aufwärmen? Und nachher einen Mohren im Hemd, mit Schlagobers?“, schlug ich vor und lehnte mich mit dem Rücken an den Steinsarg, der noch gut einen Meter über mir hoch ragte. Vielleicht sollte ich einfach ein bisschen mir ihr plaudern, überlegte ich, um ihr Vertrauen zu gewinnen. Eine kleine Lüge könnte auch nicht schaden, denn waren Mohren für mich doch viel zu süß und viel zu kalorienreich: „Die Mohren mag ich besonders gern, die schmecken delikat“, fügte ich also hinzu. Ein deftiges Frühstück erschien mir angesichts ihrer Situation durchaus angebracht.
Plötzlich bewegte sich etwas. Ich hörte hinter mir ein leises Klimpern und dann ein Rasseln, als würde Metall an Stein schlagen. Kurz darauf vernahm ich oberhalb von mir eine dunkle Stimme, die sich empörte, und zwar mächtig: „Was? – du verzehrst NUBIER?!“
Ich erschrak, drehte mich um und sah hoch. Da stand im Steintrog ein männliches Wesen, nicht älter als zwanzig, und blickte auf mich herunter. Seine dramatisch betonten Augen funkelten mich angewidert an. Sein Oberkörper war nackt, um die Schultern hatte er sich einen Vorhang aus dem Nebenraum geworfen. Ich erkannte ihn am Muster – der schwere Stoff war mit großen, stilisierten Blattranken und Lotosblumen bestickt. Um seinen Hals trug er eine lange, goldene Kette, an der ein wuchtiger, farbenreicher Anhänger lässig vor seiner Brust baumelte.
Der Sarkophagschläfer, der sein schwarzes Haar schulterlang wie Andrè Schuen trägt, stemmte nun die Hände in die Hüften und wiederholte seine Frage. Er sprach mit einem Akzent, den ich nicht einordnen konnte. Undefinierbar. „Ein Kunstsprachenakzent aus Star-Trek“, würde Cousin Flori fachmännisch feststellen.
An jedem seiner Handgelenke trug er ein breites, goldverbrämtes, mit bunten Perlen versehenes Armband – es waren solche, wie man sie im angrenzenden Museumsshop nicht gerade günstig kaufen konnte: Repliken.
O, nein, dachte ich, – ein Freak!
„Ihr esst Nubier und Frankfurter?! Was seid ihr für ein widerliches Volk, ihr Wiener? Schlimmer noch als die Totenverschlingerin …“ Er nannte einen Namen, den ich noch nie gehört hatte, aber es klang wie Amet-mut . Dabei blitzte er mich wieder so erbost aus seinen grafischen Rauchaugen an, als wäre er der Rächer von allen Süßspeisen und Würstchen, die hier in Wien zu Tode gekommen waren.
Der will mich auf die Rolle nehmen, dachte ich bei mir – und verkündete: „Natürlich, wir wollen die Frankfurter nur als gefüllte Haut, und die Mohren im Hemd“, ich verbesserte mich, „das darf man heute nicht mehr sagen – political correctness – also, die Farbigen im Hemd mit einer ordentlichen Portion Schlag!“ Ich fand mich wirklich widerlich … er mich sicher auch.
„Wo bin ich da bloß hingeraten!“, entrüstete er sich vollkommen zu Recht und zog die dunklen Augenbrauen zusammen. „Ihr seid ja noch grausamer als das Volk von …“ und nun sagte er etwas, das klang wie Assur . Er sprach zwar, abgesehen von dem undefinierbaren Akzent, gutes Deutsch, aber ich wusste trotzdem nicht, ob ich es richtig verstanden hatte, weil mir dieses Volk gänzlich unbekannt war. Aber das sagte ja nichts … kann ja auch irgendein kleiner Stamm, irgendwo in einem abgeschiedenen Gebirgstal von … vielleicht Äthiopien sein? Nein, Äthiopien nicht, die sind mittlerweile zivilisiert. Vielleicht von Afghanistan … die Taliban? Wahrscheinlich aber spielte er auf die Gräueltaten in Syrien an. Oder meinte er gar die Assyrer?
Aber er gab mir nicht die Möglichkeit, länger darüber nachzudenken oder ihn einfach zu fragen, was ja das Vernünftigste gewesen wäre, denn er beugte sich nun in seinen Steintrog hinunter, holte eine bunte Ledertasche hervor, legte sich den Trageriemen um eine Schulter und stieg aus seinem Nachtlager – nein: er verließ es mit einem Satz, nur auf eine Hand gestützt, und landete elastisch neben mir auf dem Boden. Der Vorhang rutschte ihm dabei von der anderen Schulter.
Wenigstens war er nicht ganz nackt, wie schon zu befürchten war, sondern hatte einen knielangen Lendenschurz aus weißem, leinenartigen Gewebe an, der in vielen akkuraten Plissee-Falten gelegt um seine Hüften drapiert war – lediglich gehalten von einer breiten Schärpe. Sie war bestückt mit goldfarbenen Metallblättchen und bunten Einlegearbeiten. Den Anhänger vor seiner glatt rasierten Brust konnte ich nun genauer betrachten: Es war ein dunkelblauer, geflügelter Skarabäus mit einer rotflammenden Scheibe auf dem Kopf, der, wie es schien, geradewegs aus einer türkisgrünen Schale heraushüpfte. Seinen sportlich definierten Bizeps umspannte je ein Oberarmreif, ebenfalls aus goldfarbenem Metall.
„O nein! – Ein Ägypten-Freak“, murmelte ich zwar gedämpft, aber er zog eine Augenbraue hoch – möglicherweise hatte er meine Einschätzung gehört, stützte wieder die Hände in die Hüften und sprach – es klang gewichtig: „Ich werde jetzt gehen. Dein widerwärtiges Angebot muss ich ablehnen. Vielen Dank!“ So etwas wie Enttäuschung konnte ich gerade noch in seinem Blick lesen, bevor er sich umdrehte und den Saalausgang ansteuerte.
„Er bewegt sich wie eine Raubkatze“, würde meine Freundin Judith sagen, wenn sie seinen Gang charakterisieren müsste. Bei mir würde die Beschreibung zwar nicht so dramatisch ausfallen, aber ich konnte im Moment auch nichts Besseres heranziehen als einen Vergleich aus der Tierwelt.
Normalerweise sehe ich Männern nicht nach, und ich habe keinen blassen Schimmer, warum ich es jetzt tat. Dabei fiel mir auf: Er hatte glatt rasierte, wohlgeformten Beine, und seine gepflegten Füße steckten in geflochtenen Leder-Flip-Flops. Ein angenehmer Anblick, den man im Sommer angesichts der vielen hornhautgeplagten Mitbürger selten zu sehen bekommt, wie Wien-Kenner Peter Krobath in einer satirischen Kolumne einmal bemerkte. Denn nicht jeder, der solches Schuhwerk trägt, sollte dies auch tun.
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