Ich umrundete einmal die lebensgroße Skulptur, aber von einem roten Graffiti war nichts mehr zu sehen – nicht einmal eine Spur. Hubert ging sehr pedantisch vor, da konnte man ihm nichts vorwerfen.
Wer war bloß der Täter? Wer macht so etwas? Und wozu?
Vielleicht hat jemandem die Visage des grinsenden Typen nicht gefallen – wäre doch im Bereich des Möglichen? Mir gefiel sie nämlich auch nicht. Ein guter Abschluss: Für heute hatte ich genug gesehen. Ich ging auf demselben Weg zurück und gelangte wieder in den ersten Saal.
Er stand da wie ein Sperrschiff, und trotzdem hatte ich ihn übersehen.
Vielleicht hatte ich ihn zuvor auch nur deshalb übersehen, weil er umringt war von Glasvitrinen, in denen die ekeligen Mumien aufbewahrt waren, an denen ich vorbeiging, als hätte ich Scheuklappen.
Ein massiger, schiefergrauer Sarkophag aus Granit.
Er war kunstvoll gestaltet und über und über mit gemeißelten kleinen Hieroglyphen versehen. Auf einer Hinweistafel stand, dass er dem königlichen Schreiber des gesamten Rechnungswesens gehörte.
Na ja, die Beamten! – Die hatten immer schon mehr Privilegien und Pfründe als andere, wie sonst hätte sich dieser Kerl so einen protzigen Sarkophag leisten können.
Aber vielleicht hatte er diese Business-Class-Raumkapsel für die Reise in die Unterwelt sogar von seinem Brötchengeber, dem Pharao, geschenkt bekommen? Ein toller Sarg, soll ja damals als besondere Auszeichnung für die mittlere Führungsebene gegolten haben.
So wie heute vielleicht ein toller Dienstwagen, etwa ein Porsche Cayenne … der auch zu einem Sarg werden kann. Egal: Richtige Särge wären heute aber eher als Affront zu werten: „Kauft dem doch einen Sarg!“ – Soll heißen: Kleb nicht weiter am Sessel, Alter! – Du kostest mich mehr als drei Uni-Abgänger.
Am Boden war der gleichsam massige Deckel abgelegt, über dessen gesamte Länge eine gemeißelte, fast nackte Frauengestalt prangte wie ein Pin-up. Wahrscheinlich, um den toten Oberbuchhalter, der da irgendwann einmal darin bestattet war, die Zeit im steinernen Zuber zu verschönern.
Aber praktisch dachte auch ich, deshalb konnte ich mir durchaus vorstellen, dass so ein Trog ein wunderbares Hochbeet abgeben würde, wie geschaffen für den Garten meiner Großtante Fanny. Mich amüsierte der Gedanke, wie da ihre Liebstöckel, Rhabarber, Tomaten, und anderes Bio-Gemüse lustig heraussprießen würden, aus diesem antiken Artefakt. Respektlos war sie ja noch immer, trotz ihres hohen Alters, das lag vielleicht in der Familie und ließ mich für meine eigene Zukunft hoffen.
Auf einmal verspürte ich seit Langem wieder ein unwiderstehliches Verlangen, etwas ganz Blödes anzustellen, nämlich, das Ding zu erklimmen, um das Innere dieses düsteren Steinklotzes zu erforschen. Es galt also festzustellen, ob es möglich wäre, einen Ablauf für Regenwasser anzubringen, der das Grabmal auch einer anderen Funktion zugänglich machen könnte, außer nur so nutzlos im Museum herumzustehen. Man könnte ja den Vorschlag dem Stadtgartenamt unterbreiten: eine Installation mitten im Volksgarten, mit der Heilsbotschaft der Perma-Jünger: Bürger, esst mehr Bio-Gemüse – und eure Kultur wird so lange blühen wie die des Alten Ägypten! Also immerhin mehrere Tausend Jahre.
Dass die Kameras wirklich knock-out waren, wusste ich – daher konnte mich auch keine zurechtweisende Lautsprecherstimme von meinem Vorhaben abhalten. Nur vielleicht Ralphs Meinung: Infantil, wie eh und je, irrlichterte es in meinem Kopf herum.
Nichtsdestotrotz kletterte ich kurzentschlossen die hohe Stufe hinauf, weil da noch ein steinerner Vorsprung war, auf dem der Koloss stand. Dann wollte ich mich am Sarkophag hochstemmen. Der war wirklich sehr hoch, und ich bin etwas klein gewachsen. Er ging mir bis zur Nasenspitze. Es gelang mir nicht. Spätestens da hätte ich normalerweise aufgegeben. Aber jetzt nicht. Wie ich mir diese Dreistigkeit herausnehmen konnte, weiß ich nicht. Jedenfalls holte ich den kleinen Schemel für Aufseher, der in einer Ecke des Raumes stand, stellte ihn an der Steinwand ab, stieg hinauf, zog mein rechtes Bein über den breiten Rand und beugte mich hinein.
Und da sah ich es!
Der spitze Schrei, den ich losließ, war Ausdruck meines Entsetzens (obwohl ich nie schreie und schon gar nicht in der Art. Wie ich es hasse, wenn jemand so spitz schreit … Noch dazu, wenn der Jemand ich bin). Also ganz meine übliche Zurückhaltung vergessend, schrie ich auf, als hätte mich eine Schlange gebissen und federte reaktionsschnell wie nie zurück, sonst wäre ich glatt in das dunkle Grab geplumpst. Bei dieser abrupten Aktion verlor ich das Gleichgewicht und wäre fast wie ein ungeübter Reiter auf einem störrischen Gaul nach hinten gefallen; konnte mich aber doch noch rechtzeitig abfangen und hantelte mich nur von meinen Instinkten beherrscht, sofort, und so schnell ich konnte, wieder herunter.
Ich schlotterte, mein Herz raste … es wird jeden Moment aussetzen – davon war ich überzeugt, denn so erschreckt hatte ich mich noch nie! Nicht einmal, damals, als Kleine, als mein verrückter Cousin Flori einen toten Frosch mit doppeltem Kopf aus seiner Hose holte, mir vor die Nase hielt und behauptete, das sei ein Alien.
Ich hielt mir die flache Hand gegen die Brust und atmete gepresst durch den Mund mehrmals ein und aus.
Da war etwas – im Steintrog! Da war etwas, auf das ich fast draufgefallen wäre! Da war etwas, das mich anstarrte!
Im Inneren des düsteren Dinges sah ich direkt in zwei große, schwarz umrahmte Augen, die mich flackernden Blickes fixierten – als würden sie sich in mein Gehirn einbrennen wollen!
Sonst sah ich nichts. Die Gestalt war verhüllt bis über die Nasenspitze. Aber es war keine der Mumien, da war ich mir sicher – die Augen lebten!
Eigentlich wollte ich schon weglaufen, wie die ehemals kleine Göre, vor dem vermeintlichen Frosch-Alien. Aber dann beruhigte ich mich einigermaßen und überlegte, was das jetzt eigentlich war.
Mein erster klarer Gedanke, den ich fassen konnte: Das war kein Geist – nein, denn an Geister glaubte ich nicht. Zumindest heute nicht mehr. Als Kind schon … was für eine schreckliche Zeit!
So verrückt, noch ausgewachsen an so etwas Absurdes zu glauben, war nur Esoterik-Hubert; denn, wäre er an meiner Stelle, hätte ihn bei seinen Ängsten glatt der Schlag getroffen und die Pensionsversicherung hätte sich einiges erspart. Mein Herz pumpte zwar noch immer wie wild und mein Blutdruck musste bald die Gefahr-in-Verzug-Grenze erreicht haben, aber mein Verstand war überzeugt: ein Unterstandsloser hatte hier sein Nachtquartier aufgeschlagen.
Jedoch, eines erschien mir merkwürdig: die starke Augenbemalung! – Und daraus schloss ich mit kriminalistischem Spürsinn, dass es sich um ein weibliches Wesen handeln müsse, noch dazu war die Malerei so glamourös wie das große Abend-Make-Up von Bobbi Brown … Smokey Eyes, sicher mit Rich Caviar Eye Shadow erzeugt. Mit Farben kannte ich mich aus, auch wenn ich an mir selbst Körperbemalung ablehne.
Also doch keine Unterstandslose.
Möglicherweise eine von den Society-Damen, die von der letzten Dinner Party hier im Hause übrig geblieben war? Einen Saal vom Museum konnte man auch für private Feste mieten, und bei den Galadinners sollte ja immer ordentlich gebechert werden, wie mir einmal Herr Willi, der Security Mensch, erzählte, dessen Aufgabe es dann war, die letzten Gäste am Morgen nach draußen zu komplimentieren und alle Nischen zu inspizieren, ob es sich da keine Besoffenen gemütlich gemacht hätten... Vielleicht war er bei seinem Rundgang nicht sehr motiviert?
Allerdings – ich verwarf den Gedanken wieder, die letzte Abendveranstaltung war bereits vor vierzehn Tagen!
Also doch jemand ohne festen Wohnsitz?
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