Anna, 2016
„Was soll das heißen, ich komme da nicht mehr raus?“
„Der Vertrag ist unterschrieben. Was ist denn los? Du bist doch sonst immer so zuverlässig.“
Eine Erinnerung, die ich nicht brauche. Ich weiß, wie ich bin. Das muss mir meine Verlagsbetreuerin Linda nicht auch noch unter die Nase reiben. Der faule Kompromiss meines Lebens ist nichts, was ich je vergessen könnte. Und zu allem Überfluss gelte ich im Verlag auch noch als zuverlässig.
Im ersten Moment klingt das, als wäre es etwas Gutes. Doch eigentlich heißt es, ich gebe mich zufrieden und bedanke mich auch noch dafür, indem ich Jobs annehme, die ich eigentlich nicht machen möchte, und erledige sie auch noch so gut, dass ich ständig bei den gleichen Aufträgen lande. Ein Teufelskreis, der mir gerade jetzt zum Verhängnis wird. Noch mehr als sonst. Linda hat es mit einem Satz klargemacht. Ich komme aus dem Buchvertrag mit Fiedler Glas nicht heraus. Keine Chance. Verdammt. Ich kann nicht mit Paul zusammenarbeiten. Ich kann ihn nicht wiedersehen. Nicht ihn.
„Anna? Bist du noch dran?“
„Ähm … Ja, klar. Ist schon okay. Es … ich hatte nur kein so gutes Gefühl.“ Eine lahme Ausrede, aber mehr werde ich nicht zugeben. Ich kenne Linda zwar seit Jahren, aber ich würde nicht sagen, dass wir Freunde sind. Außerdem gehöre ich nicht zu den Menschen, die gleich jedem seine geheimsten Gedanken mitteilen, jedenfalls nicht mehr. Meine Gedanken und Gefühle gehören mir. So halte ich das. Zugegeben, das bringt einem nicht gerade viele Freunde ein, aber auf lange Sicht erspart es zumindest Enttäuschungen.
„Was genau meinst du?“, bohrt Linda nach. Sie wirkt verwirrt, was ich ihr nicht mal verdenken kann. Schließlich habe ich noch nie angerufen, um aus einem Vertrag entlassen zu werden. Nicht mein Stil. Normalerweise jedenfalls.
„Nichts … Es gab nur ein unangenehmes Missverständnis mit dem Fotografen. Nichts Dramatisches. Ich kriege das hin.“
Das Problem daran, wenn man gut darin ist, andere nicht in sich hineinsehen zu lassen, ist, dass man irgendwann seine eigenen Lügen glaubt. Im Moment rede ich mir ein, dass ich das schon hinkriegen werde und meine Gefühle in Pauls Nähe nur besser kontrollieren muss. Das kann ich inzwischen so gut, dass ich einen Mann kennenlerne, einen wie David, und nicht einmal selbst weiß, ob ich etwas für ihn empfinde. Doch die Tatsache, dass ich sofort wieder etwas für Paul gefühlt habe, sagt mir, dass David wohl ab sofort auf der Liste der Freunde einzuordnen ist. Und dass mir das nicht das Geringste ausmacht, macht deutlich, dass es zwischen ihm und mir sowieso nie funktioniert hätte.
Ich kann immer noch nicht glauben, dass ich ausgerechnet ihm wiederbegegnet bin. Paul …
Verdammte Zufälle im Leben. Oder vielleicht stimmt es, was man sagt, und Wien ist ein Dorf. Egal, wie viele Menschen dort leben, es ist nicht so groß, wie es scheint. Oder … Nein, das ist völlig absurd. So etwas wie Schicksal gibt es nicht.
Zum ersten Mal seit langer Zeit verspüre ich das Bedürfnis, mich einer guten Freundin anzuvertrauen und Rat bei ihr zu suchen. Dumm nur, dass ich im Moment gerade mal zwei Menschen habe, auf die diese Bezeichnung zutrifft. Katja, die ich während des Studiums kennengelernt habe, ist eine davon. Sie war damals die Einzige, von der ich sagen kann, dass ihre Freundschaft keine Schönwetterangelegenheit war. Sie hat mir, zu einer Zeit in meinem Leben, als ich drohte, mich selbst zu verlieren, bedingungslos beigestanden, als alle anderen langsam verschwanden. Das werde ich ihr nie vergessen. Leider arbeitet sie für ein Reisemagazin und ist daher nicht oft in der Stadt. Die andere Freundin, die ich wirklich so bezeichnen kann, ist Cami. Wir kennen uns nicht besonders lange. Aber als wir uns im Verlag begegnet sind, kamen wir sofort ins Gespräch. Es war jener seltene Fall von spontaner und gegenseitiger Sympathie, die aus zwei fremden Frauen Freundinnen macht. Wir sind beide kreativ tätig, ich als Autorin und sie als Grafikerin. Das verbindet und schafft eine gemeinsame Basis. Ihre Ehrlichkeit und ihre Offenheit schätze ich sehr. Und auch wenn es Dinge gibt, die ich ihr nicht sage, weil ich sie lieber für mich behalte, gibt es niemanden, mit dem ich sonst über eine Situation wie diese reden möchte, wenn ich überhaupt drüber sprechen will.
„Linda, hör zu! Vergiss einfach, dass ich angerufen habe. Das war alles nur ein dummes Missverständnis. Ich habe überreagiert. Kommt nicht mehr vor“, versichere ich ihr.
„Okaaay.“ Mein plötzlicher Schwenk von Entlass-mich-aus-dem-Vertrag zu Alles-halb-so-wild irritiert sie.
„Aber, wenn es wirklich ein Problem gibt, weißt du ja, dass du dich an mich wenden kannst.“
„Ja, das weiß ich.“ Dennoch werde ich es nicht tun. Andere um Hilfe zu bitten ist nicht gerade eine meiner Stärken, und hätte ich nicht absolute Panik, Paul wiederzusehen, wäre ich nie so weit gegangen, um eine Vertragsauflösung zu bitten. Ich hasse es, welche Macht dieser Mann über mich hat. Immer noch. Dabei kenne ich ihn eigentlich nicht, abgesehen von den Stunden dieser Nacht vor fünf Jahren .
Nein, ich werde nicht daran denken!
„Ich muss jetzt auflegen. Sobald das Buchkonzept endgültig steht, schicke ich dir das Exposé und ein paar Entwürfe.“
„Gut. Ich freue mich schon drauf. Und Anna?“
„Ja?“
„Du solltest es nicht so schwernehmen. Es werden andere Projekte kommen.“ Ich atme tief durch und schließe kurz die Augen.
„Ja, ich weiß“, sage ich, obwohl ich nicht mehr wirklich daran glaube. Zu oft habe ich den Fehler gemacht, zu hoffen, und bin bitter enttäuscht worden.
„Bis dann!“
Linda legt auf, und ich bin froh, dass ich in der nächsten Zeit nur per Mail mit ihr kommunizieren muss. Ich möchte von ihren nett gemeinten Durchhalteparolen für eine Weile verschont bleiben. Wie ich mein Glück kenne, meint sie einen weiteren Ghostwriter-Job, die ich inzwischen genauso sehr hasse. Mein letzter Buchauftrag steckt gerade in den finalen Zügen und die Überarbeitung ist ein einziger Kampf. Wenn ich schreiben könnte, was ich wollte, würde ich niemals die Geschichte einer Erbin aus einem deutschen Adelshaus zum Thema meines Romans nehmen. Armes, reiches Mädchen, mit dem ich drei Monate meines Lebens verschwendet habe. Ein Schaudern unterdrückend beschließe ich, die Überarbeitung dieses Manuskripts zu verschieben und lieber Cami anzurufen. Als sie beim dritten Ton bereits rangeht, hellt sich meine Stimmung merklich auf.
„Anna. Schön, von dir zu hören.“
Camis freundliche Stimme erinnert mich an ihr hübsches Lächeln und ihre hellen strahlenden Augen.
„Danke. Gleichfalls. Wie geht’s dir?“
„Ich kann nicht klagen. Die Arbeit läuft gut. Connor ist wieder mal auf Reisen, kommt aber morgen endlich zurück.“ Ich lache, als ich die Erleichterung darüber höre.
„Ihr zwei haltet es nicht lange ohneeinander aus, was?“, ziehe ich sie auf. Zwar habe ich Connor bisher noch nicht persönlich getroffen, aber Camis Erzählungen zufolge ist er der Mann ihres Lebens. So etwas soll es geben. Zumindest für manche von uns. Andere haben dafür Ex-One-Night-Stands, die unpassenderweise in der Gegenwart auftauchen.
„Stimmt. Und ich möchte es gar nicht anders haben.“ Sie kichert in den Hörer.
„Gibt es einen Grund, warum du anrufst, oder vermisst du nur unsere stundenlangen Gespräche?“ Jetzt bin ich es, die schnaubend lacht.
„Beides. Ich hoffe ja immer noch, du verrätst mir deinen Trick, wie du es geschafft hast, in deinem Alter ein eigenes Grafik-Unternehmen erfolgreich zu führen. Aber du sagst immer nur, dass du Glück hattest und die richtige Gelegenheit aufgetaucht ist. Das hilft mir nicht weiter.“
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