„Dann stell uns mal richtig vor, David.“ Ein breites Grinsen breitet sich auf Pauls Gesicht aus. Ich glaube, ich mochte meinen heißen Fremden lieber.
„Na klar … Paul, das ist Anna, die Autorin, die die Texte für unser Buch schreiben wird. Anna, das ist mein etwas merkwürdiger Bruder Paul, der die Fotos machen wird und normalerweise unsere Partys meidet.“
Ich reagiere nicht, lasse das Gefühl der Panik nicht zu. Dann ist er eben der Fotograf, der die Fotos zu dem Buch macht, das ich schreiben soll. Das kriege ich hin. Ganz sicher. Lügnerin!
„Formvollendet, kleiner Bruder.“ Paul verzieht amüsiert das Gesicht und wendet sich wieder mir zu.
„Anna also.“ Sagt er das so, weil er meinen Namen nun kennt, oder spielt er auf unsere gemeinsame Nacht an? Erinnert er sich wirklich, wie ich dachte, oder glaube ich nur, dass er das tut? Denn ich könnte schwören, Paul hat das gesagt, weil er nie meinen Namen kannte. Bis jetzt.
„Ja, so heiße ich.“ Ich versuche krampfhaft, nicht zu lächeln. Gar nicht so einfach, wenn mein männliches Gegenüber ein Hammerlächeln und dazu diese unwiderstehlichen Grübchen besitzt.
„Gefällt mir“, meint er und trinkt einen Schluck Bier, genauer gesagt trinkt er aus einer Bierflasche. Damit ist klar, dass er nicht gerade ein Fan dieser Art von Partys ist. Hier wird Bier ausnahmslos aus Design-Varianten der Fiedler-Bierglas-Serie getrunken . Wieso gefällt mir das nur so?
David sieht sich nervös um und bricht damit den Bann, der zwischen mir und seinem Bruder entstanden ist.
„Was ist denn?“, frage ich ihn. Er legt mir den Arm vertraut um die Schulter und flüstert mir zu, dass er jemanden gesehen hat, mit dem er unbedingt reden möchte.
„Kümmere dich kurz um Anna. Und sei ja nett zu ihr!“
Schon ist mein Begleiter verschwunden. Und ich stehe alleine mit meinem One-Night-Stand aus der Vergangenheit da.
„Du und mein Bruder also“, kommentiert Paul trocken und kann nicht verbergen, wie gereizt er dabei klingt.
„Ich weiß nicht, was du meinst.“ Ich mache ein paar Schritte von ihm weg, hin zur Brüstung. Abstand scheint mir eine gute Idee zu sein.
„Ich meine, dass du offenbar mehr für ihn bist als nur die Autorin unseres Buchs, oder irre ich mich da etwa?“
Er duzt mich. Aber bei ihm könnte es auch ganz normal sein, das zu tun. Trotz seiner reichen Herkunft wirkt Paul wie jemand, der nicht viel auf Formalitäten gibt. Ich meine, selbst ich trage ein enges Kleid, das ich mir kaum leisten kann, während er in zugegeben verdammt gut sitzenden Jeans, einem einfachen T-Shirt und einer braunen Lederjacke gekleidet ist. Er sieht umwerfend aus, passt aber nicht hierher, und genau das will er vermutlich damit auch zeigen.
„Wir haben uns ein-, zweimal zum Essen getroffen, wenn du das wissen willst. Aber keine Sorge, dein kleiner Bruder ist schon groß genug, um zu wissen, wen er auf ein Date einlädt … Außerdem wüsste ich nicht, was es dich angeht, ob er und ich uns privat treffen?“ Nun muss er Farbe bekennen. Wenn Paul sich erinnert und das auch zugeben möchte, wird er etwas sagen, und wenn nicht, weiß ich, dass ich es mir nur eingebildet habe, und er erinnert sich nicht an mich, oder zumindest weiß ich, dass er dichthalten wird.
„Du hast recht. Es geht mich nichts an, Anna“, sagt er ruhig. Doch da war etwas in seinem Gesicht. Ich kann nicht sagen, was es bedeutet. Ehe ich darüber nachdenken kann, grinst Paul mich breit an.
„Ich hoffe, du bist schon Feuer und Flamme für das Buch über unser kleines Glasimperium.“ Dankbar nehme ich die Ablenkung an, auch wenn mir sein Sarkasmus nicht entgangen ist. „Klingt nicht gerade, als wärest du stolz darauf, einer der Erben dieses Glasimperiums zu sein?“
„Ich glaube, da hast du was falsch verstanden. David ist der Sohn und Erbe. Ich bin bloß Paul, der Fotograf. Mit dem Glasgeschäft habe ich nichts zu tun.“ Eindringlich sieht er mich an und verleiht seiner Klarstellung einen bleibenden Eindruck damit.
„Verstehe … Du bist das schwarze Schaf, oder?“
„Könnte man so sagen. Ich schlage nämlich aus der Art und tue, was ich will. Das ist sozusagen gegen das Fiedler-Familien-Motto. Zumindest treibt es meinen Alten in den Wahnsinn“, verkündet er stolz. Na, der scheint seinen Vater wirklich nicht zu mögen. Doch der Humor, an den ich mich gut erinnere, ist noch da, auch wenn er ganz anders klingt.
„Dann bist du kein typischer großer Bruder.“
„Wohl eher nicht.“ Nachdenklich blicke ich ihn von oben bis unten an. Es macht keinen Unterschied, ob er sich erinnert. Ich meine, wir kennen uns nicht, so oder so.
Da ist nur dieses Prickeln zwischen uns, das ich einfach ignorieren muss. Es ist rein körperlich. Schließlich hatte ich den besten Sex meines Lebens mit diesem Mann. Beim Gedanken daran zieht sich mein Schoß sehnsuchtsvoll zusammen. Das Erinnerungsvermögen meines Körpers scheint sehr ausgeprägt zu sein. Wenn ich auf seine Hände sehe, meine ich sogar zu wissen, wie es sich anfühlt, wenn er mich berührt. Um diese Gedanken zu verscheuchen, schüttle ich den Kopf und konzentriere mich stattdessen auf die merkwürdigen Leute unter mir.
„Was für ein Haufen“, schnaubt Paul neben mir und blickt genau wie ich über die Brüstung.
„Das trifft es!“
„Versteh mich nicht falsch. Ich liebe meinen Bruder. Abgesehen von meinem Großvater ist er sogar der Einzige in der Familie, den ich wirklich mag, aber ich werde nie kapieren, wieso er sich mit denen da unten abgibt. Und mach dir nichts vor, Anna, wenn du was mit ihm anfängst oder schon angefangen hast …“ Seine Stimme klingt rauer als noch zuvor. „… dann musst du dich auch mit denen da abgeben. Gehört zum Gesamtpaket. Glas. Geld. Glamour. Und diese hohlen Typen da.“ Der Gedanke ist schrecklich. Diese Menschen und ich haben weder was gemein noch möchte ich je zu ihnen gehören. Aber David wirkt nicht, als würde er das erwarten. Oder täusche ich mich da?
„Und was sagt dir, dass ich nicht genau das will?“
„Mein Instinkt.“ Paul sieht mich ohne Spur des Zweifels von der Seite an. Genau wie in der Bar damals. Es ist, als könne er direkt in mich hineinblicken. Es ist beängstigend.
„Du hast recht, ich möchte keiner von ihnen sein, aber ich bin Realist. Man kann sie nicht völlig umgehen.“
„Wem sagst du das. Ich mache ab und an einige Werbeshoots. Da wimmelt es von denen. Aber wenigstens kann ich dadurch vom Fotografieren leben. Nur unter ihnen leben will ich nicht“, stellt er vehement klar und deutet auf die schicken Menschen unter uns.
„Geht mir genauso.“ Ich sehe ihn an, und da ist er wieder, dieser Moment, den man nur mit ganz bestimmten Menschen haben kann, wenn man genau dasselbe fühlt und man keine Worte braucht, um sich zu verstehen. Es ist gefährlich, sich von so etwas verleiten zu lassen. Denn das Gefühl oder das, was Paul Instinkt nennt, kann einen furchtbar täuschen, und die Menschen sind nicht immer das, was sie zu sein scheinen. Besonders auf Männer trifft das zu, vor allem dann, wenn ich sie anziehend finde. Und Paul finde ich nun mal wahnsinnig anziehend, daher ziehe ich mich zurück und durchbreche den Moment. Als wüsste er, was in mir vorgeht, sieht er mich vorwurfsvoll an.
„Zumindest hast du mir einen Grund gegeben, mich auf das Buchprojekt zu freuen. Eigentlich bin ich heute nur zu diesem Affentheater gekommen, um David zu sagen, dass ich es doch nicht mache. Doch jetzt habe ich es mir wieder anders überlegt.“ Ein selbstsicheres Grinsen überzieht sein Gesicht. Etwas in meiner Brust wird eng und warm. Ich habe diesen Auftrag von Anfang an nicht gewollt. Und jetzt verspüre ich regelrecht Fluchtpanik.
„Wieso?“, frage ich, obwohl ich nicht sicher bin, ob ich die Antwort hören will. Paul lässt sich näher zu mir, so nahe, dass mir sein würzig warmer Männergeruch in die Nase steigt, der wahnsinnig anregend auf mich wirkt. Mein Herz rast.
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