„Der Junge ist ein Grünschnabel und muss noch viel lernen“, stellte mein Großvater richtig. „So schnell kann ich mich noch nicht zur Ruhe setzen. Es dauert auch immer eine Weile, bis die Patienten einem neuen Arzt vertrauen.“
„Davon war doch auch gar nicht die Rede, Ulrich, dass du dich zur Ruhe setzen sollst“, entgegnete meine Großmutter. „Ich weiß doch, was dir die Praxis bedeutet. Ich wollte ja nur sagen ...“
„Ich bin zum Restaurantchef befördert worden“, unterbrach nun mein Vater, den meine Mutter schon den ganzen Tag gedrängt hatte, seinen Eltern bei der ersten sich bietenden Gelegenheit die Neuigkeit zu verkünden, damit nicht immer wie sonst nur sein erfolgreicher Bruder im Mittelpunkt stand.
„Restaurantchef?“, fragte Auguste nach, während mein Großvater mit seinem Kaffeelöffel die letzten Kuchenkrümel von seinem Teller aufnahm. „Und was heißt das nun genau? Ist das nur so ein ... Titel, oder bedeutet es auch endlich einmal mehr Geld? Es ist ja übrigens ein wahres Wunder, dass ihr beide euch wenigstens heute für die Geburtstagsfeier eurer Tochter freinehmen konntet. Sonst müsst ihr doch immer so viel arbeiten. Und das für einen Hungerlohn.“
„Nun ...“, setzte mein Vater an, bevor ihn meine Mutter bei diesem heiklen Thema unterbrach, indem sie die Kaffeekanne nahm und „Jemand noch Kaffee?“ in die Runde fragte.
Sofort hielt meine Großmutter ihre rechte Hand über ihre eigene Tasse und ihre linke über die meines Großvaters. „Nein, danke. Keinen Kaffee mehr für uns. Wir hätten eigentlich gar nichts davon trinken sollen. In unserem Alter verträgt man nicht mehr so viel Koffein. Da kommen wir heute Nacht wieder nicht zur Ruhe. Wenn es geht, könntest du uns beim nächsten Mal koffeinfreien Kaffee kochen, Yvonne. Oder am besten gleich Kamillentee. Den vertragen wir am besten.“
„‚Oder am besten gleich Kamillentee! Den vertragen wir am besten!‘“, ahmte meine vor Wut kochende Mutter mit schriller Stimme ihre Schwiegermutter nach, kaum dass meine Großeltern sich verabschiedet hatten. „Deine Mutter ist so ein eingebildetes Miststück ! Wie hält dein Vater es nur mit so einer furchtbaren Frau aus?“
„Rede doch bitte nicht so über meine Mutter“, bat mein Vater ruhig. „Erst recht nicht vor Susi.“
„Susi weiß schon längst, was für ein Drachen ihre Großmutter ist!“, schrie meine Mutter. „Meine Mutter mag ja ihre Fehler haben, aber deine ist nicht zum Aushalten! Nicht – zum - Aushalten! An der Stelle deines Vaters hätte ich sie schon längst erwürgt!“
„Yvonne, bitte! Hör auf, so zu reden. Mein Vater hat sich an die Art meiner Mutter gewöhnt. Er nimmt‘s mit Humor. Was bleibt ihm auch anderes übrig?“
Wenn in der Folgezeit zwei entscheidende Dinge nicht eingetreten wären, hätte sich vielleicht alles ganz anders entwickelt. Aber so kam es zu der wahnwitzigen Idee meiner Mutter, unbedingt einen eigenen Gastronomiebetrieb besitzen zu wollen.
Zunächst kam eine der ehemaligen Schulfreundinnen, mit denen meine Mutter während der Arbeitszeit hin und wieder telefonierte, nach Jahren zu einem Besuch in ihre Heimatstadt und unangemeldet in das „Jahreszeiten-Hotel“, um meine Mutter zu überraschen und sich deren Arbeitsplatz anzusehen, den meine Mutter in den schillerndsten Farben beschrieben hatte. Dabei bemerkte die Freundin natürlich, dass das Hotel nichts Besonders war und meine Mutter, anders als sie es dargestellt hatte, dort auch keine leitende Position innehatte. Das allein war für meine Mutter schon sehr peinlich. Noch unangenehmer wurde es, als diese Freundin in der Folgezeit weiteren ehemaligen Bekannten aus der Schulzeit von ihrer Feststellung berichtete. Davon erfuhr meine Mutter wiederum, als sie mit einer anderen ehemaligen Mitschülerin telefonierte, die sie damit auch noch aufzog.
„Was bilden sich diese einfachen Hausfrauen eigentlich ein!“, hörte ich eines Abends meine Mutter meinen Vater in der Küche anschreien. „Die haben doch noch nie etwas anderes gesehen als einen Küchenherd! Und die wollen über mich und meinen Arbeitsplatz urteilen? Dass ich nicht lache! Diese dämlichen Kühe! Dass ich mich mit denen überhaupt abgegeben habe! Die sind mir doch alle komplett unterlegen und daher natürlich neidisch auf das, was ich aus meinem Leben gemacht habe! Oh, wie ich diese verlogenen Weibsbilder hasse! Mit keiner von ihnen will ich noch etwas zu tun haben! Nie wieder werde ich auch nur ein Wort mit denen reden! Nie wieder! Als Abschiedsgeschenk werde ich aber noch jeder einen Brief schreiben, in dem ich ihnen klipp und klar ins Gesicht sage, was für primitive Tussis sie sind!“
„Was soll das denn bringen, Yvonne“, gab mein Vater zu bedenken. „Das regt dich nur unnötig auf. Und du weißt doch gar nicht, ob sich wirklich alle hinter deinem Rücken über dich lustig machen. Es wäre ungerecht, sie alle zu beschimpfen. Das wird dir nur Scherereien einbringen.“
„Günther, misch dich da bloß nicht ein!“, warnte meine Mutter. „Ich werde ja wohl am besten wissen, was das alles für verlogene Schlangen sind! Ich schreibe die Briefe, und zwar jetzt gleich! Du gehst am besten ins Wohnzimmer, denn hier störst du mich nur.“
Sicher hatte meine Mutter ihre ganze Wut in den Briefen ausgelassen und sehr böse Dinge zu Papier gebracht. In der Folgezeit wartete sie geradezu darauf, eine Antwort auf ihre Hassschreiben zu erhalten. Es kam nicht eine einzige, was meine Mutter sehr kränkte. Schließlich konnte sie es nicht länger ertragen und zwang meinen Vater, unter einem Vorwand eine der ehemaligen Klassenkameradinnen anzurufen, die einen der Briefe erhalten hatten. Diese brachte gegenüber meinem Vater ihr Mitleid darüber zum Ausdruck, dass er mit so einer verlogenen, vulgären Frau verheiratet war, bevor sie das Gespräch beendete.
Das alles hatte meiner Mutter sehr zugesetzt, auch wenn bei uns zu Hause anschließend nicht mehr darüber gesprochen wurde. Noch schlimmer wurde es, als sie ihren Arbeitsplatz verlor, obwohl sie das ganz allein sich selbst zuzuschreiben hatte. Sie meinte wohl, sich durch ein extra großes Trinkgeld selbst trösten zu müssen, und ging beim Durchsuchen der neben der Rezeption aufgehängten Garderobe der Gäste leichtsinniger vor als üblich. Ein Gast ertappte sie auf frischer Tat, packte sie, zog sie mit sich ins Restaurant und beschwerte sich dort in voller Lautstärke vor allen anderen Gästen bei Herrn Greif, der meinem Vater gerade eine Arbeitsanweisung erteilte. Auf das Einschalten der Polizei wurde nur deshalb verzichtet, weil sich meine Mutter bereit erklärte, sofort ihre Sachen zu nehmen und zu verschwinden. Ich erfuhr von der Katastrophe wieder einmal durch ein heimlich belauschtes abendliches Gespräch zwischen meinen Eltern.
„Du musst dich bei Herrn Greif entschuldigen“, fand mein Vater. „Vielleicht nimmt er dann die Kündigung zurück und gibt dir noch eine Chance.“
„Bei dem Greif entschuldigen?“, rief meine Mutter entrüstet. „Spinnst du? Ich soll dem widerlichen Kerl noch in den Hintern kriechen, damit er mich anschließend für diese Gefälligkeit begrabschen kann, wann immer er Lust dazu hat? So weit kommt es noch!“
„Aber wir brauchen das Geld“, argumentierte mein Vater. „Und Herr Greif wird dir kein Zeugnis ausstellen. Jedenfalls keines, mit dem du dich woanders bewerben kannst.“
„Weißt du was, Günther: Ich will mich auch gar nicht woanders bewerben! Ich will mich nicht mehr vor irgendwelchen Leuten kleinmachen, die meinen, etwas Besseres zu sein und mir vorschreiben zu können, was ich zu tun und zu lassen habe! Davon habe ich schon lange genug! Und deshalb habe ich beschlossen, dass wir uns etwas Eigenes aufbauen. Weshalb bin ich nur nicht schon viel früher darauf gekommen?“
„Etwas ... Eigenes“, wiederholte mein Vater verdutzt.
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