„Mama ...“, stammelte ich verunsichert und hielt den Strauß ein Stück höher. „Das hier ist für dich ... Zu deinem Geburtstag.“
Meine Mutter machte keine Anstalten, die Blumen an sich zu nehmen, und blickte verärgert zu Oma Tilly.
„Ja, auch von mir alles Gute, Yvonne“, ergänzte meine Großmutter etwas kleinlaut. Sie trat ein Stück vor – vermutlich, um meiner Mutter die Hand zu geben oder sie zu umarmen.
„Pfui, wie du stinkst!“, klagte meine Mutter angeekelt und trat einen Schritt zurück. Dann fügte sie leise hinzu: „Macht, dass ihr hier rauskommt!“
„Aber ... dein Geschenk, Mama“, versuchte ich es erneut und hielt meiner Mutter die Blumen entgegen.
„Raus hier, habe ich gesagt!“, flüsterte sie drohend.
„Gibt es Probleme?“, fragte plötzlich ein glatzköpfiger Mann, der die Lobby gerade durch den Aufzug betreten hatte.
„Nein, Herr Greif.“ Meine Mutter zwang sich zu einem Lächeln. „Die beiden haben sich nur nach dem Weg zum Krankenhaus erkundigt, wo sie jemanden besuchen wollen.“
„Tja“, wandte sich der Chef meiner Mutter mit einem leicht abfälligen Blick an Oma Tilly. „Wissen Sie denn nun, wo Sie lang müssen?“
„Ja ...“, begann meine Großmutter stotternd.
„Ja, das ist geklärt“, beeilte sich meine Mutter zu bestätigen. „Die beiden wollten gerade gehen.“
„Komm, Susi“, forderte mich Oma Tilly auf und griff mit ihrer klebrigen Hand nach meiner freien. Sie musste mich geradezu aus dem Hotel ziehen, während ich mich fassungslos nach meiner Mutter umsah, die uns jedoch nicht weiter beachtete, sondern zurück hinter den Tresen ging, wo sie einen Anruf entgegennahm.
Die für meine Mutter gedachten Blumen stellte Oma Tilly in einer Vase auf ihren Wohnzimmertisch, doch der Anblick machte mich nur noch trauriger, als ich es so schon war. Als mich meine Mutter abends abholte, erwähnte sie das Ereignis am Nachmittag mit keinem Wort. Bevor ich an diesem Abend zu Bett ging, zerriss ich die selbstgebastelte Pappschachtel, die ich meiner Mutter hatte schenken wollen, in kleine Fetzen.
Was meine Großmutter auch tat, meine Mutter ließ an Oma Tilly kein gutes Haar. „Das ist überhaupt nicht meine richtige Mutter!“, behauptete meine Mutter des Öfteren bei uns zu Hause, wenn meine Großmutter nicht anwesend war.
„Yvonne, sag so etwas doch nicht vor Susi“, versuchte mein Vater dann, sie zu beschwichtigen.
„Susi ist alt genug und kann die Wahrheit ruhig erfahren!“, regte sich meine Mutter weiter auf. „Diese Frau kann nicht meine leibliche Mutter sein! Ich habe mit ihr überhaupt nichts gemeinsam! Und ich sehe auch ganz anders aus als sie und Karin.“
Karin war die ältere Schwester meiner Mutter, die wie meine Großmutter klein und dick, allerdings gepflegter war. Sie hatte vor Jahrzehnten auf einem Schulausflug in einem kleinen Dorf ihren späteren Ehemann kennengelernt. Mit ihm bewirtschaftete sie dort nun einen Bauernhof – eine Tätigkeit, die meine Mutter verabscheute.
„Wo habe ich denn zum Beispiel diese rotblonden Haare her?“, wollte meine Mutter von meinem Vater wissen. „Kein Mensch in unserer Familie hat rotblonde Haare – bis auf Susi natürlich. Die hat sie zusammen mit der Sommersprossenhaut und den hellblauen Augen von mir geerbt. Aber ich? Von wem habe ich diese Haare? Oohh nein !“, schnitt meine Mutter meinem Vater das Wort ab, obwohl er gar nichts gesagt hatte, und zeigte drohend mit dem Zeigefinger auf ihn. „Behaupte jetzt bitte nicht, dass ich nur einen anderen Vater als meine Schwester habe, Günther! Behaupte das ja nicht ! So eine ist meine Mutter nicht! Nein, ich muss direkt nach der Geburt vertauscht worden sein. Und irgendwo sitzt jetzt so ein kleiner schwarzhaariger Fettklops unter lauter Großen, Schlanken mit rotblondem Haar. Ja, genauso muss es sein!“
„Wie du meinst, Yvonne“, pflichtete mein Vater ihr bei – wohl hauptsächlich, um das Thema zu beenden.
Es gab nur eine Sache, die meine Großmutter in den Augen meiner Mutter richtig gemacht hatte – sie hatte ihr den zu der Zeit außergewöhnlichen Vornamen Yvonne gegeben, auf den meine Mutter sehr stolz war. „Das ist französisch“, pflegte sie stets hinzuzufügen, wenn jemand meine Mutter fragte, wie sie heiße.
Um meine Mutter aufzuziehen, sprach mein Vater oft das E am Ende ihres Namens mit aus, allerdings nur, wenn meine Mutter gute Laune hatte.
„Günther!“, schrie meine Mutter dann, während sich mein Vater das Lachen kaum verkneifen konnte. „Das ist ein französischer Name! Da spricht man das E nicht mit aus!“
„Schon gut, Yvonn ee . Das weiß ich doch“, versuchte er, meine Mutter zu beruhigen, was sie erst richtig in Rage brachte.
Da ihr Vorname für meine Mutter so wichtig war, verstand ich nicht, weshalb meine Eltern mir den Allerweltsnamen Susanne gegeben hatten. Als ich ungefähr zehn Jahre alt war, fragte ich meine Mutter einmal danach, und sie antwortete, ohne mich anzusehen, während sie Einkäufe im Kühlschrank verstaute, dass sie die ganze Zeit vor meiner Geburt davon überzeugt gewesen sei, einen Sohn zu bekommen, da ihr Bauch so tief gehangen habe. Das sei ein untrügliches Zeichen dafür, dass es ein Junge werde. Als ich mich dann als Mädchen herausgestellt habe, sei ihr auf die Schnelle kein anderer Name eingefallen.
„Das ist doch kein schlechter Name, Susi“, versuchte mich mein Vater, dem mein enttäuschtes Gesicht im Gegensatz zu meiner Mutter nicht entgangen war, zu trösten. „Es gibt viel schlimmere.“ Angriffslustig sah er zu meiner Mutter hinüber, die noch mit dem Verstauen von Lebensmitteln beschäftigt war und ihm den Rücken zukehrte. „Zum Beispiel Yvonn ee .“
Äußerlich war ich mit meinem rotblonden Haar, das ich auf eigenen Wunsch immer sehr kurz trug, meinen blassblauen Augen und meiner hellen, zu Sommersprossen neigenden Haut tatsächlich meiner Mutter ähnlich.
„Sei froh, dass du meine Gene geerbt hast, Susi“, sagte sie mehr als einmal zu mir. „Du wirst später eine Figur haben wie ein Fotomodell. Groß und schlank. Du wirst niemals fett werden wie Oma Tilly oder Tante Karin. Das sind nämlich nicht deine leiblichen Verwandten.“ Vermutlich spielte meine Mutter mit ihren Worten auch auf die Pfunde an, die mein Vater ihrer Ansicht nach zu viel am Bauch mit sich herumtrug, doch er nahm ihre versteckte Kritik geduldig hin. Für diese Ruhe und Ausgeglichenheit bewunderte ich meinen Vater und fühlte mich innerlich viel mehr zu ihm hingezogen als zu meiner launischen Mutter.
In den 1970er Jahren trug mein Vater sein braunes Haar so lang, dass es seine Ohren bedeckte, und dazu einen Vollbart. Auch später, als es schon unmodern war, hielt er noch an dieser Frisur fest. Erst als das Haar meines Vaters bereits dünner wurde, ließ er es kurz schneiden, doch auf seinen Bart wollte er nie verzichten. Die braunen Augen meines Vaters erinnerten mich an die eines treuen Bernhardiners, während aus den Augen meiner Mutter förmlich Funken sprühen konnten, wenn etwas nicht nach ihrem Willen verlief. In solchen Momenten zog ich es dann vor, mich in mein kleines Zimmer zurückzuziehen.
In dem Hochhaus, in dem wir lebten, fühlte ich mich trotz der Anonymität und Schäbigkeit seltsamerweise sehr wohl. Das lag vermutlich daran, dass sich hier jeder nur um sich selbst kümmerte und auch nichts anderes vorgab. Niemand heuchelte Interesse am Wohlergehen seiner Nachbarn, und niemand schrieb anderen vor, wie sie zu leben hatten. Leben und leben lassen, lautete das Motto der Hochhausbewohner. Das war ungeschriebenes Gesetz. Jeder gab sich hier so, wie er war. Wer hier allerdings allein wohnte und keine Bekannten hatte, konnte wochenlang tot in seiner Wohnung liegen, ohne dass es jemandem auffiel. Die Wohnungen in dem Haus waren so zahlreich, dass es unmöglich war, alle Bewohner zu kennen. Es waren schon seltsame Leute darunter, die meine Großmutter väterlicherseits, wenn sie sich denn einmal gemeinsam mit meinem Großvater dazu herabließ, ihre Vorstadtvilla zu verlassen und uns zu besuchen, regelmäßig an den Rand des Nervenzusammenbruchs brachten.
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