Meine Güte, ist der hübsch - so ne klassische Schönheit und Look of the Year in einer Person, find ich.
Im Ernst, so würd ich auch gerne aussehen… Doch selbst wenn ich nicht krank wär, könnte ich da nicht mithalten… Aber wer kann das schon?
Paul vielleicht…
Na ja, ich werd Euch jetzt lieber weiter beschreiben, wie der Junge aussieht. Seine Augen sind so hellblau, wie der Himmel an einem wolkenlosen Sommertag. Meine Güte, wie schöngeistig …
Aber irgendwie läuft es darauf hinaus. Ich hätte nun auch etwas weniger euphorisch babyblau sagen können, oder dass er so blaue Augen hat wie n Siamkater. Mir aber gefällt der Vergleich mit dem Himmel und wem das zu schwülstig ist, der kann ja vergissmeinnichtblau dazu sagen.
Wie dem auch sei - der Junge hat jedenfalls so hellblaue Augen wie Paul. Der hat die blausten Augen, die ich je gesehen hab.
Meine sind zwar auch blau, allerdings eher so graublau. Die Augen des Jungen aber wirken oft gletscherblau wie Eis; glasklar und kühl,
während Pauls Blick gar nicht kalt, sondern warm und strahlend ist.
Oder war. Im Moment ist er nämlich eher matt. Nahezu erloschen …
Also, ich bleibe nun lieber bei dem Jungen.
Ich möchte unbedingt erzählen, wie er aussieht und außerdem unterdrückt dies das seltsam leere, unangenehme Gefühl und die quälende Sorge um Paul.
Der Junge hat hübsch geformte, dunkle Augenbrauen und lange, dichte, fein geschwungene schwarze Wimpern, wie sie in irgendwelchen Werbespots für Mascara diese ganzen Mädchen immer haben.
So was wie Schminke hat er aber gar nicht notwendig.
Seine Gesichtszüge sind fein, der Teint ebenmäßig und rein - nicht so n Clerasiltestgelände wie ich eins hab.
Seine Nase ist klassisch geformt und seine Lippen sind…
Sinnlich und prall (oder so). O Mann, wie das klingt …
Na ja, aber seine Lippen zeigen nun mal eine unübersehbare Affinität zu roten, reifen Obst und genau das denkt auch das Mädchen, das gerade aus dem Pastorat herauskommt und nun an ihm vorbei geht.
Der Junge mit dem Kirschmund fläzt sich auf einer Sonnenliege im Garten vor der Kirche und bedenkt sie mit einem halbherzigen Blick.
Sie errötet daraufhin und geht hastig weiter.
Nach und nach kommen auch andere Jungen und Mädchen in den Garten hinaus, denn für heute ist der Konfirmandenunterricht vorbei.
Der Junge mit dem Kirschmund sieht an ihnen vorbei.
Er weiß, welche Blicke ihn jetzt streifen; er kennt das bereits.
Diese Blicke sind zu gleichen Teilen eifersüchtig, unwillig, respektvoll, bewundernd oder lüstern. Der Junge lächelt selbstverliebt. Er weiß, dass er gut aussieht, ist sich seiner Wirkung absolut bewusst und strotzt nur so vor Selbstvertrauen.
Aus dem Pastorat tritt nun ein Mann, der eine ausgebeulte, schlichte schwarze Hose und einen etwas unförmigen, dunklen Pullover trägt, heraus. Er sieht gutmütig und emphatisch aus, doch er hat nicht die geringste Ähnlichkeit mit dem Jungen auf der Sonnenliege.
Trotzdem ist dies sein Vater und überdies der Gemeindepastor.
Der Kirschmund-Junge seufzt, als er ihn erblickt - er weiß nur zu gut,
was jetzt kommen wird.
Der Vater geht auf die Sonnenliege zu und als er sie erreicht hat, sieht er auf den Jungen, lächelt nachsichtig und fragt mild tadelnd:
“ Tibor - kannst du nicht, wenn du schon während des Konfirmandenunterrichts mitten auf der Kirchwiese herumliegen und dich sonnen musst, wenigstens das T-Shirt dort sitzen lassen, wo es für gewöhnlich sitzt?“ Der Pastor mustert noch einmal seinen Sohn, der eine enge, schwarze Strechjeans trägt und das angesprochene, ohnehin knappe T-Shirt, über den Bauchnabel nach oben geschoben hat.
Tibor zuckt mit den Schultern.
“Um diese Tageszeit steht die Sonne hier nun mal am besten”, erklärt er.
“Und außerdem kann ich ja nichts dafür, wenn dieser Kindergarten jedes Mal ausflippt, nur weil draußen auf der Liege einer ist.“
Sein Vater schüttelt den Kopf. “Als ob du dir deiner Wirkung nicht bewusst wärst…”
Tibor sieht ihn gelangweilt an. “Ist ja schon gut“, erklärt er,
“künftig bin ich um diese Zeit im Proberaum! Ich will mir ja nicht nachsagen lassen, dass ich es darauf anlege, dass sich irgendwelche Kleinkinder an mir aufgeilen…“
Damit steht er anmutig von der Liege auf und geht über die Kirchenwiese davon. -
Eine coole Sau, dieser Tibor, findet Ihr nicht auch.
Ich komme noch um vor Bewunderung.
So selbstbewusst und attraktiv ist der… Wie Paul…
Ich kann ihn genau vor mir sehen, wie er über die Wiese bei der Kirche förmlich davon schwebt ; gut gebaut und leicht.
Genauso ging Paul damals, als er mir draußen auf dem Gang vor den Krankenzimmern entgegen oszillierte, oder wie das heißt.
Ich sehe nun auf und stelle fest, dass von der gelblichen Flüssigkeit zumindest in dem Fläschchen kaum noch was zu sehen ist, wohl aber im Katheter.
Manchmal beunruhigt es mich ja, wenn ich das Gefühl hab, dass ich mich zu absolut nichts mehr aufraffen kann. Doch diese Sache mit Tibor fasziniert mich. Soviel weiß ich jedenfalls schon:
Tibor kommt aus Ungarn; aus einem kleinen Ort in der Puszta.
Den Namen weiß ich allerdings nicht, aber vielleicht kennt Paul ja einen. Er war früher nämlich oft mit seinen Eltern dort.
Tibor ist sechzehn Jahre alt, zwei Jahre jünger als wir.
Paul und ich werden dieses Jahr beide achtzehn; Paul im März und ich im Februar.
Tibors Vater ist der Pastor der evangelischen Kirchengemeinde des Ortes und seine Mutter ist Musikprofessorin.
Tibor selbst hat gerade die Schule hinter sich gebracht und von daher Zeit, sich uneingeschränkt seiner Zukunft zu widmen.
Tibor ist nämlich Musiker. Vor zwei Jahren hat er ne Band gegründet, deren Namen ich aber leider auch noch nicht weiß. Es wird ja wohlmöglich sogar ein ungarischer sein und auf dieser Sprache kann ich ungelogen kein Wort.
Ich frage mich, wie ich überhaupt auf Ungarn als Tibors Heimat gekommen bin. Bestimmt liegt es an der Dokumentation über die Große Tiefebene, die Paul und ich vor einiger Zeit im Fernsehen gesehen haben, und auch daran, dass Paul schon so oft dort war.
O Mann, wie sehr wünsch ich mir, dass ich die Puszta auch mal gesehen hätte! Nicht nur im Fernsehen, sondern ganz in echt…
Ich kann mich genau daran erinnern, wie ich auf den Bildschirm gestarrt hab und ganz plötzlich Sehnsucht nach all dem verspürte; nach der unendlichen Weite und nach dem grenzenlosen Himmel darüber.
Während ich hier jetzt auf meinem Bett liege, sehe ich wieder die grasenden Graurinderherden vor mir und die Ziehbrunnen, die aus der Weite herausragen. Heute Abend vor dem Einschlafen werde ich die ersten sechs ungarischen Rhapsodien von Liszt hören, soviel steht fest.
“ Ja “, hatte Paul mir nach der Sendung bestätigt, “das ist wirklich absolut schön da. Weißt du, Sandor Petöfi, das war ein ungarischer Volksdichter, also , der hat geschrieben, dass die Puszta dem oberflächlichen Betrachter als karg und trist erscheinen mag - es ist, als trage sie einen unsichtbaren Schleier, den sie nicht für Jeden lüftet. Doch für denjenigen, für den sie es tut, offenbart sie sich als die Schönste von allen.”
Dafür liebe ich Paul. Er ist nicht nur hübsch, sondern er ist auch belesen und klug und er kennt so schöne Sachen und Zitate.
Die Puszta jedenfalls lüftete ihren Schleier für mich und nun lebt Tibor dort.
Mir fällt jetzt sogar noch was ein: Ich sehe wieder diesen See vor mir,
aus dessen dicht mit Schilf bewachsenen Saum fünf wunderschöne weiße Seidenreiher in die Luft emporstiegen…
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