Meine Haare waren zwar nicht lang, aber kurze Haare oder gar keine , das ist doch noch ein ziemlicher Unterschied.
Außerdem hatte ich gerade beschlossen die Haare endlich wachsen zu lassen.
Dann aber kam die Leukämie und so sehe ich jetzt aus.
Die Wimpern und Augenbrauen fehlen mir übrigens auch schon.
Die fallen nämlich ebenso aus; also zuerst die Haare auf dem Kopf und dann nach und nach alle anderen. Meiner Erfahrung nach ist das jedenfalls so. Am Körper sind mir zwar noch nicht alle Haare ausgefallen, aber das wird wohl noch passieren.
Vor einiger Zeit hab ich mal gelesen, dass es Leute gibt, denen die Haare bei ner Chemotherapie überhaupt nicht ausfallen. Weder auf dem Kopf, noch sonst wo, aber ich denk mal, die meisten haben da weniger Glück.
“Bei mir ist alles ausgefallen”, hat Paul mir bestätigt,
“aber das geht wohl fast allen so und ehrlich gesagt glaub ich noch nicht mal, dass das unser größtes Problem ist…“
Paul hab ich auf der Station kennengelernt. Eines Tages gingen wir beide über den Gang und plötzlich standen wir uns gegenüber.
Na?”, hat er mich gefragt. “Wo hast dus?”
“Was?”, war meine dämliche Antwort - aber so bin ich nun mal.
“Was wohl, Krebs”, meinte Paul.
Er schien aber gar nicht ungeduldig zu werden, wegen meiner Begriffsstutzigkeit, sondern eher so angelustigt.
“Ach so der”, murmelte ich und wurde rot. “Im Blut.”
Paul nickte. “Ich auch. Akut oder chronisch?”
“Akut.”
Paul nickte wieder. “Klar”, hatte er gemeint, “chronisch kriegen ja auch meistens eher die Alten.”
Er zupfte an seinem T-Shirt herum. “Lymphatisch oder myeloisch?”, fragte er dann weiter.
“Myeloisch. Und du?”
“Lymphatisch. Kinderkrebs also.” Paul grinste.
Ich zuckte mit den Schultern. “ Ja - aber was soll’s. Ätzend sind sie alle beide.”
Da musste er mir Recht geben - und das hatte ich auch.
Ich erklär Euch den Unterschied zwischen lymphatisch und myeloisch , später, okay? Mir ist das jetzt zu langweilig und ich wollte ja auch nur mal schnell erklären, wie ich Paul kennengelernt hab.
Ich finde allerdings, dass ich ohne Haare noch mehr ausseh, als ob ich Krebs hätte und das will ich nicht. Zwar hab ich den ja wirklich - aber muss man mir das gleich so ansehen? Nahezu gedemütigt fühl ich mich und genau das hab ich eben bei der Begegnung mit diesem Mann besonders deutlich gespürt.
Ganz bestimmt hat Paul aber Recht, wenn er sagt, dass der Haarausfall eins der geringeren Probleme ist. Verglichen mit dem Vernichtungsgefühl, der Ohnmacht und der Todesangst ist das nämlich tatsächlich nichts.
Nein , dieser Haarausfall ist bloß ne Nebenwirkung der Chemotherapie - und bei weitem nicht die einzige.
So hab ich zum Beispiel oft ganz furchtbare Magenschmerzen.
Die Schleimhaut hat sich abgelöst und ich bekomm nur noch Schonkost. Im Moment ist das allerdings nicht so schlimm. Ich kann sowieso nichts schmecken und das ist auch wieder so ne Nebenwirkung von dieser Chemokeule.
Chemokeule - na ja, die Dosierung war eher mittelstark.
Ich ziehe die Kapuze fester.
Wisst Ihr, wenn ich sterben sollte, dann will ich aber trotzdem,
dass meine Haare wenigstens wieder etwas nachgewachsen sind…
Ein paar Zenitmeter bloß.
Tut uns leid , werden die Ärzte eines Tages vielleicht zu mir sagen,
wir können nichts mehr für dich tun. Die Therapie schlägt nicht mehr an, einen Knochenmarkspender haben wir auch nicht und wir wissen derzeit nicht, was den Krebs jetzt noch unter Kontrolle bringen könnte…
Der Leukozytenwert steigt ins Unermessliche…
70, 80, 100, 150, 200...
Und ich bin tot .
In der Zeit davor gibt’s keine Behandlung mehr und meine Haare können wieder wachsen. Was für ein Glück, denn auf keinen Fall will ich mit diesem kahlen Kopf von der Welt gehen.
Vielleicht ist so was egal - ich will das aber nicht.
Keine Ahnung, warum nicht, es ist ein rein persönliches Empfinden.
Ich starre auf den Auengrund vor mir.
Diese verdammte Leukämie… Wie satt ich das alles hab.
Ich seufze und da auf der Wiese noch immer kein Rotwild zu sehen ist, beschließe ich, mich nun auf den Rückweg zu machen.
Es regnet nicht mehr, doch das ist mir egal. Ich fühle mich nur noch schlapp und außerdem fand ich den Regen vorhin ja so schön.
Ich mache kehrt und gehe zurück zum Parkcafe, wo meine Eltern auf mich warten.
Ich muss Euch jetzt noch erzählen, dass Ihr mich eben im Park ohne meinen MP3-Player, also ohne Musik, angetroffen habt.
Das ist wirklich ne Erwähnung wert, denn sonst gehe ich nie ohne dieses Teil aus dem Haus.
Heut aber hab ich Trottel ihn liegen lassen…
Wisst Ihr, ich kann höchstens drei Stunden hintereinander ohne Musik sein. Sonst bekomm ich Entzugserscheinungen und mein seelischer Zustand verschlechtert sich dramatisch.
Leider bin ich selbst überhaupt nicht musikalisch.
Ich hab kein Taktgefühl, kann kein Instrument spielen oder singen und zum Komponieren taug ich auch nicht.
Dieses Unvermögen hält mich aber nicht davon ab, Musik über alles zu lieben.
Bei meinen Vorlieben hab ich eine sehr weite Bandbreite.
In erster Linie lieb ich zwar (Hard)rock und Metal, aber Klassik und geistliche Musik auch. Darüber hinaus höre ich Punkrock, Indie, Electronica, mittelalterliche Musik und manche Popmusik.
(So, dies nun als unvollständigen Auszug.)
Auf Konzerte gehen kann ich wegen der Infektionsgefahr derzeit leider nicht, aber ich höre ständig Musik.
Jetzt hab ich seit über drei Stunden keine mehr gehört und beginne, obwohl ich ja nicht gerade so scharf darauf bin ins Krankenhaus zurückzukommen, ungeduldig zu werden.
Ich stecke also in einem ziemlichen Dilemma.
Ich hab inzwischen das Parkcafe erreicht und hier warten meine Eltern auf mich. Sie heißen Johannes und Ulrike und sind die Beiden, die dort hinten am Fenster sitzen.
“Wo warst du so lange?”, fragt meine Mutter mich, als ich an den Tisch geschlenzt komme, gereizt. Mein Vater hingegen mustert mich nur kurz und macht ein entspanntes Gesicht.
“Nun lass ihn doch”, meint er und schiebt mir einen Stuhl heran, damit ich mich setzen kann.
“ Lass ihn doch! ”, wiederholt meine Mutter ärgerlich.
“Wir hatten uns auf fünfzehn Minuten geeinigt - und nun war er fast eine dreiviertel Stunde weg!“
Sie schüttelt den Kopf. “Henny, ich kann ja verstehen, dass du mal für dich sein möchtest, aber du weißt auch, dass es nicht ungefährlich ist, wenn du ganz allein draußen im Wald herumläufst!”
“Weiß ich auch”, gebe ich zu, “aber erstens ist das ja kein richtiger Wald und zweitens…”
“Du könntest kollabieren”, unterbricht meine Mutter mich ungerührt.
“Und es ist ja auch nicht so, dass dir das noch nie passiert wäre.
Erst neulich bei uns im Garten zum Beispiel. Zwar hat Papa dich gleich gefunden, doch hier findet dich wohlmöglich nicht so ohne Weiteres jemand und schon gar nicht an so einem trüben und nebligen Tag wie heute, wo sich so gut wie niemand im Park aufhält!”
Sie hält inne und schüttelt wieder den Kopf.
Ich will erwidern, dass es im Moment wenigstens für die Jahreszeit ziemlich warm ist, doch sie kommt mir zuvor.
“ Nein , Henny - im Grunde hätten wir dir gar nicht erlauben dürfen, allein zu gehen. Und dann noch im Regen!“
Meine Mutter sieht mich streng an. “Hast du dich wenigstens untergestellt? Und bist deshalb bist so lange weggeblieben…“
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