Ich antworte nicht und sie beginnt, an meinen Klamotten herumzuzehren. “Die sind ja ganz feucht - ach, was sag ich, nass !”, ruft sie aus.
Aufgebracht sieht sie mich an. “Sag mal, Henning, spinnst du?!”
Henning . Wenn sie mich mit meinem richtigen Namen anspricht, muss sie ziemlich wütend sein auf einen…
Wisst Ihr, ich kann meine Mutter ja irgendwie verstehen, aber auf die Nerven geht sie mir doch.
Ich ziehe es jetzt vor, überhaupt nichts mehr zu sagen und sehe aus dem Fenster.
Dafür schaltet sich nun mein Vater ein. “Lass ihn doch”, brummelt er, “das bisschen Regen wird ihn schon nicht umbringen…“
Umbringen. Wie aus dem Nichts fällt mir Paul plötzlich ein und dass sie jetzt für ihn nach einem Spender suchen. Die Chemotherapie wirkt nicht mehr und die Krebszellen vermehren sich völlig unkontrolliert weiter.
Auch in seinen Organen sind sie längst nachweisbar. So hatte er vor einiger Zeit einen Milzinfarkt und sie haben sie ihm raus genommen.
“Die bescheuerten Leukozyten vermehren sich wie verrückt”,
hat er zu mir gesagt. “Irgendwie bringt dieses Zytostatika-Zeug nichts mehr und macht jetzt statt der Krebszellen die ganzen gesunden platt.
Und dabei brauch ich die so dringend…”
Ja, leider haben sie die Kontrolle über seine Krankheit verloren und der Leukozytengehalt in Pauls Blut ist förmlich explodiert.
Ich muss daran denken, wie müde und krank er ausgesehen hat, als meine Eltern mich vorhin abgeholt haben. Früher ist er oft mitgegangen, doch jetzt fehlt ihm zu einem solchen Ausflug die Kraft.
Überhaupt wird er immer schwächer …
“Wir bringen dich zurück in die Klinik”, höre ich die Stimme meine Mutter. Sie scheint von weit her zu kommen.
“Du musst sofort aus den nassen Sachen raus!“
Ich wende den Kopf und fange ihren ungehaltenen Blick auf.
“Und wenn du noch einmal derart unvernünftig bist und dich von oben bis unten nass regnen lässt, dann gehen wir überhaupt nicht mehr mit dir in den Park! Keine Infektionen! Erkältungen vermeiden durch vorsichtiges und umsichtiges Handeln!
Sie fuchtelt mit der Hand in der Luft rum.
“Kannst du nicht einmal auf das hören, was man dir sagt? Fehlt nur noch, dass du diese Hirsche wieder gefüttert hast…“
“Nee - hab ich nicht . Und selbst wenn…”
“ Ja - du weißt es selbstverständlich wieder besser! Aber die Sache mit den Infektionen…”
“ Ja, ist ja gut! Meine Güte, ich hab die Hirsche doch überhaupt nicht gefüttert!“ Ich will jetzt nur noch meine Ruhe haben.
Meine Mutter schüttelt einmal mehr den Kopf, wendet sich dann ab und winkt den Kellner heran.
Mein Vater lächelt mir aufmunternd zu und nachdem meine Mutter gezahlt hat, machen wir uns auf den Weg.
“Wollt ihr gar nicht wissen, wies im Park war?”, frage ich, als wir über die kleine Brücke, die vor dem Cafe über einen schmalen Bach führt, zum Parkplatz gehen.
“Doch“, meint mein Vater”. “Das kannst du uns ja unterwegs erzählen.”
Unterwegs - zurück ins Krankenhaus. Ich spüre Tränen in meinen Augen aufsteigen. Ich will nicht zurück, doch es muss wohl sein.
Wenigstens hab ich dort meine Musik und ich beschließe nun,
mich auf meinen MP3-Player zu freuen.
Und o ja, das tu ich auch - viel lieber allerdings würd ich jetzt mit meinen Eltern nach Hause fahren, um dort Musik zu hören.
Aber das geht ja nicht …
Ich will nach Hause…
Ich will nach Hause und irgendwann kann ich das vielleicht auch wieder. Bis dahin - ja, bis dahin hab ich Musik, um meine Angst und Verzweiflung wenigstens etwas zu vertreiben.
Liebe Musik, denke ich , was wäre ich ohne dich?
Vermutlich gar nichts…
Die nächsten Tage verbringe ich im Krankenhaus.
Ich liege auf meinem Bett rum und sehe zu, wie das gelbe Zeug;
diese Zytostatika, aus dem Infusionsbehälter mit der Flüssigkeit in den dünnen Schlauch, der unter die Haut in meine Brustwand eingesetzt wurde, läuft. So ein Ding nennt sich Hickman-Katheter und er führt in eine große Vene in der nähren Umgebung des Herzens.
Aus ihm werden übrigens auch die Blutproben entnommen.
Das hier ist nun mein dritter Zyklus.
Ich bin jetzt schon drei Tage dabei und die ersten Nebenwirkungen; das Kotzen und so, haben nachgelassen.
Ich seufze und starre auf das Buch, das vor mir auf der Bettdecke liegt. Irgendwie ist mir doch nicht nach Lesen. Davon werd ich immer so müde ( oder besser gesagt: noch müder ) und auf den Inhalt konzentrieren kann ich mich auch nicht. Das ist wieder so ne Nebenwirkung der Chemotherapie, dass die Konzentrationsfähigkeit total eingeschränkt ist.
Lustlos wie ich im Moment bin macht mir das zwar noch nicht mal was aus. Ich muss bloß so oft daran denken, was mir ein paar Andere hier auf der Station erzählt haben: nämlich dass diese Konzentrationsstörungen selbst lange nach der Behandlung bleiben und oft auch nicht mehr viel besser werden… Irgendwie geht dieses Zytostatika-Zeug wohl auch aufs Gehirn, glaub ich. Na ja .
Ich stelle nun meinem MP3-Player an. Ich höre gerade A Midwinter Night`s Dream von Loreena McKennitt.
An für sich ist das ja n Weihnachtsalbum doch was soll’s.
Erstens hör ich immer, worauf ich gerade Lust hab und zweitens leb ich im Dezember ja vielleicht gar nicht mehr…
Okay , so genau weiß keiner, wie lange er noch lebt, aber ich hab im Moment ja nen Anlass, um an so was zu denken.
Während ich hier auf dem Bett liege, Musik höre und leise vor mich hinsumme, vergeht etwas Zeit und plötzlich taucht er wieder auf.
Wer ? Na ja, wisst Ihr, es ist ein Junge, etwas jünger als ich vielleicht.
Ich weiß nicht so genau, ob ich ihn erfunden hab, oder ob er mir irgendwie geschickt wurde.
Es ist sehr einsam, allein zu sein und darauf zu warten, dass die Chemo durchläuft. Ich wünschte, ich würde das Zeug in Tablettenform bekommen können…
Nun aber bricht dieser Junge in meine Einsamkeit hinein.
Als ich vor ein paar Tagen nicht schlafen konnte, war er das erste Mal da. Ich hatte gerade solche Angst davor, nicht wieder gesund zu werden und zu sterben. Nachts, wenn es still und dunkel ist, ist es besonders schlimm.
Ich schaltete meinen Mp3-Player ein und plötzlich; mitten in Porcupine Tree`s Sleep together auf der Fear of a blank planet , ist er hinein gebrochen. Allerdings verschwand er ebenso schnell wieder, wie er gekommen war…
Ja, er tauchte ab; zurück in die Tiefen meines Unterbewusstseins und dort blieb er fürs erste auch.
In der Nacht, in der er zum ersten Mal kam, war ich aber von meinen Gedanken an den Tod abgelenkt und konnte schlafen.
In den nächsten Tagen blieb der Junge verschwunden, doch nun ist er plötzlich wieder da. Wie aus dem Nichts ist er gekommen und in diesem Moment scheint er mich eingehend zu mustern.
Zuerst ist sein Blick abschätzend und kühl, doch dann huscht für den Bruchteil einiger Sekunden ein angedeutetes Lächeln über sein Gesicht. Und was für ein Gesicht der hat - soll ich Euch erzählen, wie er aussieht? Zwar ist er so schön, dass ich ihn kaum hinreichend werde beschreiben können, aber ich versuch es trotzdem.
Okay - also, er hat rotbraune Haare, die in leichten, schönen Wellen bis auf seine Schultern fallen. Paul hat mir erzählt, dass er solche Haare hatte. Überhaupt hat der Junge irgendwie Ähnlichkeit mit Paul, wie ich gerade feststellen muss.
Ich sehe ihn mir jetzt noch genauer an, denn ich will ihn Euch so gut wie möglich beschreiben.
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