Paul ist am zweiten Februar gestorben und am siebten war seine Beisetzung.
O Mann, wenn ich mich daran erinnere, vergeht mir das mit dem Verwegen tun gleich wieder…
Ich brauch bloß an diese Urne zu denken, die da langsam in die Erde gelassen wurde und wie unheimlich und unangenehm mir dieser Anblick war. Ich konnte mir absolut nicht vorstellen, dass dies alles war, was von Pauls Körper geblieben ist - so wenig , dass er nun komplett in dieses kleine Ding reinpasste.
Hinzu kam noch, dass ich die ganze Zeit über daran denken musste,
dass es wohlmöglich nicht mehr allzu lange dauert und ich selber lande auch in so einem Teil.
Ich hätte viel lieber daran gedacht, wie ich Paul damals kennen gelernt hab und was wir alles miteinander erlebt und worüber wir gesprochen haben. Doch diese anderen Gedanken waren übermächtig und ich konnte nichts dagegen tun.
Ich fand diese Urne so was von schlimm und ich hatte solche Angst,
bald sterben zu müssen, dass ich kaum noch an mich halten konnte.
Bestimmt hatten meine Eltern und die von der Krankenhausseelsorge das gemeint, als sie gesagt haben, ich solle mir gut überlegen, ob ich wirklich zu Pauls Beisetzung gehen will und dass er wohl Verständnis dafür gehabt hätte, wenn ich im Krankenhaus bleibe.
Aber da ist es ja auch nicht viel angenehmer….
Ich ging also und stand dann ziemlich verkniffen auf dem Friedhof rum.
Irgendwie fand ich auch, dass einige Leute dort mich so merkwürdig ansahen. Im Ernst , mir war, als könnte ich denen geradewegs ansehen, was die dachten.
Und zwar: Na, der wird wohl demnächst auch fällig sein…
Für so ne Urne nämlich. Dass ich krank bin, sieht man ja auf den ersten Blick.
In Pauls Stammschuppen, wo wir nach der Beisetzung noch waren, lächelte ich so unbefangen wie möglich in die Runde; immer dankbar, wenn jemand mein Lächeln auffing und erwiderte.
Trotzdem aber hatte ich das Gefühl, dass ich vielen da suspekt blieb.
Wisst Ihr, sie schienen ne ganz merkwürdige Form von Respekt vor mir zu haben und wenn einer mit mir sprach, ging es auch fast nur um diese bekloppte Krankheit.
Doch vielleicht bilde ich mir das mit diesem komischen Respekt und dem ganzen anderen Kram auch bloß ein und bin mir lediglich selbst suspekt.
Ich weiß nicht .
Es scheint übrigens üblich zu sein, dass bei so ner Trauerfeier drei Lieder gespielt werden können. Paul hat sich seine noch selbst ausgesucht; es waren Boneflower von Avatarium, Taking Back My Soul von Arch Enemy und Bomber von Motörhead.
Bomber ist auf Motörhead-Konzerten immer der letzte Song und so soll es bei ihm auch sein, meinte Paul.
Dann war da noch so ein Trauerredner, weil Paul nicht in der Kirche war und so eben kein Pastor gesprochen hat. Ich fand zwar ganz gut, was der erzählt hat, aber ich glaub, wenn ich sterbe, dann will ich vielleicht doch lieber fünf bis sieben Lieder spielen und gar keiner soll da rumquatschen. Bei mir gibt’s auch nicht so viel zu erzählen.
Ich hab übrigens beschlossen, mit der Geschichte weiterzumachen.
Das hab ich Paul, dort wo er nun ist, letzte Nacht versprochen.
Bevor ich Euch jetzt wieder von Tibor und Carsten erzähle, erklär ich aber erst mal den Unterschied zwischen lymphatischer und myeloischer Leukämie - oder nee, ich erklär bloß, was ne akute myeloische Leukämie ist. Das andere weiß ich nämlich auch nicht so genau.
Also , akute myeloische Leukämie ist ne Form von Leukämie,
bei der unreife (myeloische) Blutzellen wachsen und sich unkontrolliert vermehren. Myeloische Zellen sind Vorläufer verschiedener Blutzellen und deren unkontrolliertes Wachstum führt nun dazu, dass die normalen Blutzellen (weiße und rote Blutkörperchen, Blutplättchen) verdrängt werden.
So einfach ist das - also zumindest der theoretische Vorgang.
Ich weiß nicht, warum ich Euch das gerade jetzt erklären musste.
Ist ein wenig deplaziert, aber immerhin hatte ich ja angekündigt,
dass ich diese Erklärung noch nachreichen werde und wenn ich es auch nicht geschafft hab, den Unterschied zwischen myeloisch und lymphatisch zu erklären, so hab ich doch zumindest dem ersten Teil entsprochen. -
Seit dem letzten Chemozyklus vor einer Woche sind die Ärzte sehr zufrieden mit mir. Mein Blutgehalt ist gestiegen und die Zahl der Krebszellen gesunken.
Dr. Wegener ist glücklich darüber, dass diese Chemotherapie so gut bei mir angeschlagen hat und gesagt, ich solle so weitermachen.
Ja, hab ich geantwortet, ich tu, was ich kann.
Schließlich soll ich ja noch ne Weile leben. Das wiederum hab ich Paul versprochen und was Dr. Wegener betrifft, also ich glaub,
der kann in nächster Zeit auf einen weiteren toten Jugendlichen auf seiner Station verzichten.
Irgendwann wird es schon wieder so weit sein, aber bitte nicht sofort…
Dr. Wegener ist noch ziemlich jung und ich hab schon manche hinter vorgehaltener Hand sagen hören, er habe sich noch nicht so recht an das Sterben hier gewöhnt. -
Ich lehne mich zurück und nehme langsam Pauls Tuch ab.
Wenn ich ganz allein bin, sitze oder liege ich manchmal auch mit kahlem Kopf rum und gerade jetzt möchte ich Pauls Tuch hier in meinen Händen spüren.
Ich halte mich an seinem Tuch fest und stelle meinen MP3-Player an.
Ich schließe die Augen und sofort sehe ich wieder die weiße Pastorenvilla in Tiszafüred vor mir.
Sie befindet sich direkt neben der evangelischen Kirche am Stadtrand und wenn Tibor zu Hause ist, kann er die Turmuhr zu jeder halben und vollen Stunde schlagen hören.
Mittags um zwölf schlägt sie sogar minutenlang - das hat Paul mir erzählt. Ihr heller, klarer Klang ertönt gleich nach der Glocke der katholischen Kirche.
Die katholische Kirche steht übrigens in der Innenstadt, direkt an der Hauptstraße; der Debreceni Utca .
In Tiszafüred kommt Tibor jetzt aus dem Proberaum.
Er hat heute einen ziemlich guten Tag gehabt und ist zufrieden mit sich und der Welt.
Neben dem täglichen Spiel ist er gerade dabei, ein paar neue Songs zu schreiben und dabei kann er einen schier unglaublichen Ehrgeiz entwickeln. Nun ist er müde, aber auch glücklich, denn er hat wirklich viel erreicht.
Umso wütender wird er dementsprechend am Abendbrotstisch, als seine Mutter wieder anfängt, ihm Vorhaltungen zu machen.
Sie verlangt zum Beispiel, dass er jetzt, wo er mit der Schule fertig ist, sich endlich einen “ernstzunehmenden Ausbildungsplatz” suchen soll. Ohnehin ist sie ziemlich verdrossen darüber, dass er nie zur Oberschule gegangen ist. Wisst Ihr, sie gehört zu diesen Leuten, für die nichts anderes zählt.
“Was glaubst du, was ich heute den ganzen Tag lang gemacht hab?“
Mit bewegter Geste stellt Tibor sein Glas auf den Tisch zurück.
“Ich hab gearbeitet !”
Judit, seine Mutter, zieht geringschätzig die Mundwinkel nach unten.
“ Das soll Arbeit sein?! Das ist doch wohl allenfalls ein Hobby!”
Sie ist ja Musikprofessorin und irgendwie hat sie Tibor bis heute nicht recht verziehen, dass er sich mit zwölf Jahren für die Gitarre und nicht in erster Linie für das Klavier entschieden hat.
Wäre es nach ihr gegangen, hätte Tibor Pianist werden sollen.
Er hat bereits mit vier Jahren angefangen zu spielen und stellte sich schnell als beachtliches Talent heraus. Trotzdem hat es das Instrument nie geschafft, ihn vollständig für sich zu vereinnahmen. Nein , er hatte und hat so viele andere musikalische Vorlieben und seine Mutter fand und findet, dass er zuviel herumexperimentiert.
Ihrer Meinung nach ist das nichts halbes und nichts ganzes und wie sollte Tibor bei diesem Chaos eines Tages von der Musik leben können?
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