“Na, Tibi, willst du heute noch in den Proberaum?”, fragt er.
“Oder willst du in die Kirche - zum Orgelspielen?”
Tibor denkt nach. “Erst geh ich in die Kirche, dann in den Proberaum und um elf ins Mitte der Welt ”, erklärt er.
Der Vater nickt. “Aha.”
Er reicht Tibor den Kirchenschlüssel herüber und lächelt ihm zu.
“Eine schöne Zeit! Aber bring mir den Schlüssel wieder zurück,
bevor du in den Proberaum gehst.”
“Klar”, meint Tibor und in solchen Dingen kann man sich tatsächlich auf ihn verlassen.
In Gegensatz zu mir… O Mann , ich kann mir richtig vorstellen, wie ich an seiner Stelle selbstverständlich vergessen würde, den Schlüssel zurückzubringen, um ihn dann später im Suff auch noch zu verlieren. Tibor aber ist da ganz anders.
Wisst Ihr, langsam bekomm ich ernsthaft Minderwertigkeitskomplexe, doch bestimmt hab ich nichts besseres verdient.
Es ist halt so; es gibt solche Leute wie Tibor, die schön, selbstbewusst und begabt sind. Und es gibt solche wie mich - verklemmte Loser,
die nichts auf die Kette kriegen, dauernd Schlüssel verlieren und auch sonst nichts können.
Tibor ist auch kein oberflächlicher Blender, wie Ferenc immer meint,
sondern ein beispielloser Individualist mit Tiefe.
Okay , diese ruppig-arrogante Attitüde hat er schon, aber irgendwelche Fehler hat doch wohl jeder.
Ja , irgendeinen Fehler hat in der Tat jeder - aber ich - ich hab ein paar zuviel und als ob das nicht schon schlimm genug wär, musste ich auch noch krank werden. Aber lassen wir das.
Letztendlich ist es um einen wie mich sowieso nicht schade und außerdem will ich jetzt lieber erzählen, wie es weitergeht.
“Was gibt es zum Abendbrot?”, fragt der Pastor gerade.
Tibor zieht an seiner Zigarette. “Marta (die Haushälterin) hat heute Mittag so ne Frühlingssuppe gekocht, davon ist noch ne ganze Menge übrig.”
Sein Vater nickt erfreut. “Sehr gut. Meine Güte, hab ich einen Hunger…” Er klopft seinem Sohn auf die Schulter und geht anschließend ins Haus.
“Tschüss”, murmelt Tibor hinter ihm her.
Wenn er ehrlich ist, muss er zugeben, dass er seinen Vater, der immer so ruhig, ausgeglichen und ernsthaft an dem, was er, Tibor, tut interessiert ist, sehr gern hat.
Hohles Gemecker kommt bei ihm jedenfalls nicht vor und Tibor hat auch nicht vergessen, dass der Vater ihm seinen Proberaum verschafft hat -
ein kleineres Gebäude, das sich im hinteren Teil des Kirchengrundstücks befindet. Früher wurde es als Gästehaus genutzt, doch jetzt dient es nur noch Tibors Musik.
Es ist geräumig dort, die Wände sind schallisoliert und vieles, was für die Band von Belang ist - die Anlage und die meisten von Tibors Instrumenten - ist dort untergebracht.
Sein Augenstern, die Kirchenorgel, allerdings nicht.
Dass er Kirchenmusik darauf spielen kann, weiß Tibor ja längst.
Mit neun Jahren hatte er angefangen, dieses Instrument zu lernen und seit einiger Zeit weiß Tibor auch, wie hervorragend sich die Orgel in seine Musik integrieren lässt.
Früher haben übrigens auch die Konzerte im Proberau stattgefunden, doch dafür ist er längst zu klein geworden und dieser Club in Tiszafüred ist es eigentlich auch.
Tibor zieht an seiner Zigarette und lächelt vor sich hin.
Es ist nur noch eine Frage der Zeit, bis er dieses Kaff verlassen und in Debrecen spielen wird. Und den Plattenvertrag gibt es gleich dazu.
Das weiß er . -
Mein Album ( Colours In The Dark von Tarja) ist zu Ende und ich spiele mit Pauls Tuch herum.
Ich kann die große weiße Kirche genau vor mir sehen und die gesamte Atmosphäre an jenem Abend in Tiszafüred spüren.
Zwar war dort zu dem Zeitpunkt gerade Herbst, aber ich stelle mir das ganze trotzdem an einem milden Frühlingsabend vor.
Es wird allmählich dunkel und von der Puszta her weht eine sanfte Brise in den Ort hinein. Das Storchenpaar, das in einem Horst an der Straße vor der Kirche brütet, hat sich bereits zur Ruhe begeben, doch aus dem Ligusterbusch hinter dem Kirchenschiff ertönt der Gesang einer Amsel.
Wie gern wär ich dann dort…
Doch auch im Oktober ist es wunderschön in Tiszafüred mit seiner stillen, klaren Luft.
Ich schließe die Augen. Vielleicht kann ich ja wenigstens in meinen Träumen dorthin gelangen…
Bevor ich nun hoffentlich schnell einschlafe, fällt mir noch was ein:
Wohlmöglich habt Ihr ja den Namen Debrecen nie gehört.
Wisst Ihr, Debrecen ist die zweitgrößte Stadt in Ungarn und die einzig größere in der Großen Tiefebene. Wie eine Festung aus Stein ragt sie aus den flachen Weiten der Puszta heraus; so jedenfalls hat es Paul mir erzählt.
Inzwischen ist es nächster Tag. Ich will nun erst mal Tibor wieder verlassen und stattdessen zu Carsten Wilke zurückkehren.
Carsten ist gerade in der Schule.
Er hat jetzt Sportunterricht und er sieht sich nervös um.
Er hasst diesen Schulsport, denn hier ist die Gefahr, sich zu blamieren besonders hoch. Und auch das kennt Carsten schon:
Seit er denken kann, bleibt er bei der Mannschaftsauswahl als letztes übrig.
Mit zwölf Jahren hat er aber eine einigermaßen wirkungsvolle Taktik entwickelt, um dieser Demütigung zu entgehen: wenn die Gruppen ausgewählt werden, verschwindet er so oft es geht unauffällig nach draußen und bis jetzt hat zum Glück noch niemand was von dieser Strategie bemerkt.
Wenn Carsten wieder zurückkommt, stehen die Mannschaften längst fest und es heißt lediglich noch von den Einen (herablassend): “Ach, der Wilke - nehmt ihr den noch?”,
und die Anderen antworten (betont gnädig und ergeben):
“ Ja - wenns sein muss…”
Oder umgekehrt…
Nicht dass Carsten sich dabei wohl fühlen würde. Doch so ist es immer noch besser, als rum zustehen und nicht ausgewählt zu werden.
Außerdem ändert es ja auch nichts am Ergebnis. Er geht halt in die Mannschaft, in der noch einer gefehlt hat.
O Mann, wie er diese ganzen Ballsportarten hasst…
Und auch heute scheint nichts anders zu sein als sonst - wenn man mal davon absieht, dass sich Carsten noch zusätzlich körperlich absolut schlecht fühlt. Er lehnt sich gegen die Tür des Geräteraumes. Ihm ist so schwindelig, dass er sich kaum aufrecht halten kann.
Carsten wagt aber nicht, sich einfach hinzusetzen, denn einige Meter von ihm entfernt steht Marcel mit seiner Clique. Immer wieder sehen sie zu ihm rüber; grinsen und tuscheln miteinander.
Schließlich löst sich Marcel aus der Gruppe und kommt auf Carsten zu.
O nein - was will der von mir?
“Na, Willy Wilke”, schnurrt Marcel, als er Carsten schließlich erreicht und sich vor ihm aufgebaut hat, “in welcher Mannschaft loosen wir heute ab?”
Carsten antwortet nicht. Zwar hat der Schwindel ein wenig nachgelassen, doch als er jetzt an sich heruntersieht, entdeckt er ein Hämatom auf seinem rechten Arm. Carsten versucht sich daran zu erinnern, ob er sich vielleicht gestoßen hat - das passiert ihm oft, er ist ziemlich ungeschickt.
Doch heute kann er sich nicht an einen Stoß erinnern.
Hat er den blauen Fleck vielleicht von einer dieser Anrempeleinen, die Marcel und seine Clique ihm immer wieder zukommen lassen?
Aber auch dazu fällt ihm nichts bestimmtes ein.
“Hey Willy, ich red mit dir!”
Marcel stemmt seine Arme in die Hüften und starrt Carsten unerbittlich an. Der hebt den Kopf, blickt genau in Marcels spöttisches Gesicht und sieht schnell wieder weg.
Wie war das, was hat der ihn gefragt?
Ach ja, in welcher Mannschaft er, Carsten, heute abloosen würde.
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