Er fragt krauend: „Willst du mir ein schlechtes Gewissen machen?“
„Nein. Nur dich zum Nachdenken anregen.“
Nikolas schüttelt grinsend den Kopf und erzählt von unseren neuen Gästen im Abteil.
„Also, der Blindenhund heißt Locke und ist ein Rüde. Er ist ja wirklich richtig süß, findest du nicht?“
„Ja, das ist er. Könnte ein Labradoodle sein“, stimme ich ihm zu.
„Seine Besitzerin, die blinde Dame, heißt Margit. Sie waren zu Besuch in der Pfalz bei ihrem Bruder und reisen nun wieder nach Hause.“
„Was du alles weißt.“
„Ich bin eben aufmerksam.“
Nikolas zwinkert mir kauend zu.

Kapitel 5
„Jakob, schau mal. Mir ist ein Pferd zugelaufen. Möchtest du es denn mal streicheln? Es ist ganz zahm und seine Besitzerin habe ich auch schon gefunden. Es wurde durch ein Gewitter erschreckt und ist über den Weidezaun davon galoppiert.“
Stefanie staunt, als der Wallach seinen Kopf senkt und sich von Jakob streicheln lässt. Jakob hat wohl auch keine Angst vor ihm. Das ist so schön mit anzusehen wie der Junge stetig über sich hinauswächst.
„Seine Besitzerin kommt nachher und nimmt ihn wieder mit. Das ist gar nicht weit von hier. Vielleicht könnt ihr sie mal besuchen? Sie hat noch mehr Pferde.“
Stefanie schaut Jakob fragend an und er erwidert ihren Blick mit einem Nicken.
Da kommt eine Frau um die Ecke, ein Halfter über ihre Schulter gelegt.
„Hallo miteinander. Das ist aber schön, dass Apraxas so viele Streicheleinheiten bekommt. Ich bin etwas früher als vereinbart gekommen. Ich hoffe, das ist kein Problem.“
Der Bauer begrüßt sie: „Hallo Sabrina. Absolut nicht. Der kleine Jakob erfreut sich gerade noch an ihm.“
Die Pferdefrau erklärt: „Apraxas ist an Kinder gewöhnt. Nach einer Verletzung habe ich ihn aufgenommen, da er als Rennpferd nicht mehr zu gebrauchen war. Ich habe in der Nähe eine kleine Reitschule. Ich gebe Kindern kostenlos Reitunterricht, wenn sie mir bei der Pferdepflege helfen. Es kommen besonders viele Kinder, die zuhause oder mit anderen Gleichaltrigen Probleme haben. Ich gebe ihnen eine Aufgabe und helfe ihnen dabei, miteinander kommunizieren zu lernen.“
„Das klingt fabelhaft. Ich bin Stefanie, Jakobs Mutter“, stellt diese sich vor, „vielleicht sollten wir Sie mal besuchen kommen?“
Jakob nickt und streichelt den großen schwarzen Wallach immer noch.
„Wenn Sie wollen, begleiten Sie mich doch gleich auf den Hof. Jakob könnte sich schon einmal umschauen und frische Luft tut immer gut“, schlägt Sabrina vor.
Jakob nickt wieder und schaut dabei zu, wie die Frau ihr Pferd aufhalftert.
„Vielen Dank, Manfred. Bis bald und einen schönen Tag wünsche ich Ihnen noch.“
Bauer Manfred winkt ab: „Kein Problem. Ob ein Tier mehr oder weniger. Ich habe ja genug. Tschüss Jakob. Besuch mich bald wieder.“
Jakob winkt zum Abschied und stolziert auf dem Feldweg hinter Apraxas her. Er strengt sich ganz schön an mit dem Pferd Schritt zu halten, dem so lange Beine gewachsenen sind, wodurch er im Vergleich zu dem kleinen Jungen dementsprechend riesige Schritte macht. Die beiden Frauen kommen ins Gespräch. Natürlich hat die Reitlehrerin gleich bemerkt, dass Jakob etwas bedrückt. Sie arbeitet schließlich viel mit Kindern zusammen.
Auf dem Hof angekommen bewundern Mutter und Sohn die vielen unterschiedlichen Pferde. Von kleinen dicken Ponys bis hin zu großen schlanken Sportpferden.
„Sie haben wirklich alles hier, was das Pferdeherz begehrt“, bemerkt Stefanie erstaunt.
„Ja. Die Springpferde wohnen hier, sind aber nicht meine eigenen Tiere. Die Ponys und kleinen Pferde gehören mir. Sie haben alle ein kleines Handicap, weshalb sie niemand wollte. Ich habe sie von Züchtern und Schlachthäusern abgekauft und mir eine kleine Reitschule aufgebaut. Von den Einstellern verdiene ich Geld, ebenso von den Reiterferien und Spenden. Den Kleinsten möchte ich kostenlos anbieten, die Tiere kennen und lieben zu lernen. Wir haben auch viele Jungs, die gerne zu mir kommen und Zeit auf und neben den Pferden verbringen. Besonders am Wochenende ist der Hof voll, wenn sich ganze Familien hier tummeln. Es gibt keine festen Zeiten, in denen die Kinder kommen. Es gibt immer etwas zu tun und unsere Tiefkühltruhe ist voller Eis als kleine Belohnung. Die jugendlichen Reiterinnen und Reiter sind unter der Woche nachmittags da und nehmen Reitunterricht. Sie freuen sich mindestens genauso sehr wie ich, die kleinen und großen Helfer um sich zu haben. Es ist zu entzückend, wenn vier kleine Kinder versuchen, einen Sattel zu schleppen...“
Stefanie hat interessiert zugehört und freut sich über die Chance für Jakob, endlich Anschluss finden zu können.
„Sie lieben Ihren Hof und Ihre Arbeit. Das merkt man. Es ist wunderschön hier und ich hoffe Jakob lernt hier ein paar Kinder kennen, mit denen er sich anfreunden könnte.“
Nicht nur für Jakob wäre es schön, Anschluss finden zu können, auch Stefanie könnte ein paar neue Kontakte vertragen. Sie hätte es auf jeden Fall verdient.
„Ist er denn in der Regenbogen-Kita?“, erkundigt sich die Pferdebesitzerin.
„Nein. Ich bin im Home Office tätig und habe ihn zuhause. Ist das ein neuer Kindergarten?“
„Nein. Den Regenbogen gibt es schon länger. Er nimmt Kinder auf, die alle möglichen Schwächen zeigen. Durch die kleinen Gruppen werden die Kinder besser betreut und bekommen genau das, was sie brauchen. Ich weiß nicht, was Ihrem Sohn fehlt, aber er ist sehr leise und das ist schade. Kinder strahlen nur so vor Lebensfreude und Energie, wie kleine Laternen, aber bei Jakob muss das wohl erst herausgekitzelt werden. Ich gebe Ihnen eine Broschüre mit. Ich habe hier jede Menge Infomaterial. Leider bekommt man solche Informationen nur selten von Kinderärzten, obwohl eigentlich genau das ihr Job wäre.“
Stefanie ist nun eingedeckt mit Katalogen und Broschüren. Nachdem sich Jakob einmal alle Pferde angeschaut hat, wandert er zufrieden und müde mit seiner Mutter nach Hause. Stefanie hat nun neue Hoffnung gewonnen, ihrem Jakob helfen zu können. Sie nimmt sich vor, gleich am nächsten Tag im Regenbogen-Kindergarten anzurufen, um nach einem Termin zum Kennenlernen zu bitten.
Bevor Jakob ein kleines Mittagsschläfchen macht, bereitet Stefanie Mittagessen vor. Trotz der Appetitlosigkeit des Jungen gibt Stefanie nicht auf und ruft ihren Sohn zu jeder Mahlzeit dazu. Routine ist wichtig für Kinder, besonders für diejenigen, die es etwas schwerer im Leben haben. Er muss ja sehen, dass essen ganz normal ist. Irgendwann wird er schon Hunger bekommen, auf all die leckeren Speisen, die es auf der Welt zu entdecken gibt.
„Jakob, kommst du? Es gibt Nudeln mit Tomaten-Soße.“
Jakob kommt in die Küche gewackelt und setzt sich selbst auf seinen geliebten Hochstuhl. Die Nudeln rührt er nicht an, aber die Kekse, die Stefanie ihm vor die Nase gestellt hat. Sie hatte schon so viel versucht, aber es gibt eine neue Kekssorte, mit der sie Jakob nun überzeugen will, etwas zu essen. Das tut er. Er nimmt den Keks in die Hand, schnuppert an ihm und beißt ein kleines Eckchen ab. Stefanie freut sich so sehr und strahlt ihren Sohn an. Anscheinend macht die Landluft bei Tieren hungrig.
Wieder ein kleiner Schritt in die richtige Richtung.

***
Nachdem Jakob von seinem Kinderarzt die Gesundheitsbestätigung erhalten hatte, meldete ihn Stefanie in der Regenbogen-Kita an. Ein Kind ist gerade umgezogen, dadurch ist spontan ein Platz frei geworden. Heute ist Jakobs erster Tag und sichtlich unbeeindruckt folgt er seiner Mutter durch den Flur, in dem die Jacken und Schuhe der Kinder aufbewahrt werden. Der Flur wirkt hell durch die großen Fenster, die Ausblick in den angrenzenden Garten schenken. Die Wände sind bunt beschmiert mit kleinen Handabdrücken, beklebt mit Fotos und dekoriert mit Luftschlangen und lauter Dingen, die glücklich machen sollen: Luftballons an den Decken, Sonnenlampions und gebastelten Smileys. Die Schränke sind mit verschiedenen Farben und den Namen der Kinder angemalt.
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