Jonas Frick
POLITIK DER GESCHWINDIGKEIT
Gegen die Herrschaft des Schnelleren
mandelbaum verlag
mandelbaum.at• mandelbaum.de
ISBN 978-3-85476-877-7
eISBN 978-3-85476-707-7
© mandelbaum verlag, wien • berlin 2020
alle Rechte vorbehalten
Lektorat: ERHARD WALDNER
Satz: KEVIN MITREGA
Umschlag: MICHAEL BAICULESCU
Einleitung
Dromologie und Dromokratie
Zur Historisierung der Dromokratie
Zeit und Kapitalismus
Geschwindigkeitsregime
Staat, Stadt und Geschwindigkeit
Arbeit und Zeit
Widerstand
Ideologie und dromokratische Versprechen
Leitende Widersprüche
Die Herrschaft des Schnelleren
Hochfrequenzhandel
Finanzhandel als militarisierter Cyberkrieg
Race to Zero
Eine Welt im Dauercrash
Regulation durch Geschwindigkeitsgrenzen?
Forever Young
Handeln in Echtzeit
Die Erfindung der Zukunft
Kommodifizierte Entschleunigung
Fahrgesellschaft
Die Elektrifizierung des Fußgängers
Über das dromokratische Versprechen der Mikromobilität
Die letzte Meile: Die Beschleunigungsleistung der Logistik
Kommodifizierung mit staatlicher Unterstützung
Nationale und transnationale Projekte
On Time
Die dromokratische Stille
Freiheit durch Kontrolle: Das Imaginäre der Dromokratie
Hindernisse und zweckentfremdete Straßen
Die Gespenster der Dromokratie
Jagdgesellschaft
Synchronisation und Desynchronisation
Kommodifizierung von Geschwindigkeit. (S)lower Class
Zeitarme und zeitreiche Menschen
Migration und staatliche Geschwindigkeitskontrollen
Geschwindigkeitskontrolle als dromokratisches Machtmittel
Dromokratische Geopolitik
Compressing the Kill Chain
Zur Politisierung der Geschwindigkeit
Für eine selbstbestimmte Zeit: Die Wiederaufnahme von Arbeitskämpfen um Arbeitszeiten und das Potenzial der Sabotage
Für plurale Temporalitäten: Die Stärkung temporaler Autonomien als Abkehr vom globalen Synchronisationsdruck
Für einen historischen Wandel: Die Re-Temporalisierung der Echtzeit und der detemporalisierten Gegenwart
Für die Ausweitung der politischen Themenfelder: Die Politisierung der alltäglichen Geschwindigkeitsmaschinerie
Für eine neue Perspektive: Die Wiederaneignung utopischer Vorstellungen
Epilog: Die Pandemie und die Geschwindigkeit. Ein Versuch, einen Überblick zu gewinnen
Bibliographie
»Internet grade so langsam. Ich würde mich am liebsten umbringen.« (@therealmoneyboy am 19. September 2014)
Will man die Geduld einer Person testen, dann konfrontiere man sie mit langsamem Internet. So oder ähnlich lautet ein beliebter Meme-Spruch über die digitalen Alltagssorgen. Wie langsame Computer gehört langsames Internet zu den lästigsten Tech-Problemen unserer Zeit. 1Je nach Studie verlassen zwischen 40 bis 60 Prozent der NutzerInnen eine Website, die nicht innerhalb von drei Sekunden lädt. Google hat vor zehn Jahren berechnet, dass 200 beziehungsweise 400 Millisekunden Verzögerung in der Ladezeit das tägliche Suchverhalten um 0,2 beziehungsweise 0,6 Prozent reduzieren. 2Gemäß einer Studie aus dem Jahr 2017 steigt die Bounce-Rate – das heißt: der Anteil an UserInnen, die nur eine einzige Seite auf einer Homepage betrachten – bei zwei Sekunden Verzögerung um 103 Prozent. 3Anders gesagt: Je länger eine Website lädt, desto schneller verlieren Menschen ihr Interesse daran.
UserInnen sehnen sich nach der größtmöglichen Datengeschwindigkeit. Dafür werden Milliardenbeträge in Forschung und Infrastruktur investiert, beispielsweise in 5G, das nicht nur eine schnelle Internetverbindung, sondern auch die endgültige Einführung der digitalen Zukunft verspricht. Der laufende Ausbau des Telekommunikationsnetzwerks setzt den neuen Standard für die kommunikative Durchdringung unserer Welt. Möglichst bald schon hat alles mit allem im Kontakt zu stehen – und dies mit höchster Geschwindigkeit. Will künftig der Kühlschrank mit dem Herd, das Mobiltelefon mit dem Haus, das Auto mit der Ampel und die Überwachungskamera mit der polizeilichen Datenbank kommunizieren, dann bedarf es, so die gängige Argumentation, eines Ausbaus der Telekommunikationsinfrastruktur. Der dafür entwickelte Standard 5G setzt sich aus drei Stufen zusammen. Bereits umgesetzt wurde der erste Teil, der ›Release 15‹. Dieser ermöglicht die zielgerichtete Ausstrahlung von Funkwellen und dadurch die Steigerung der Datenrate. Der in den kommenden Jahren geplante ›Release 16‹ soll die Latenzzeiten auf unter eine Millisekunde senken. Das heißt: Die Zeit, die zwischen der Eingabe und der Umsetzung eines Befehls vergeht, soll minimiert werden. ›Release 17‹ schließlich wird die Kapazität des Netzwerkes steigern. Bis zu einer Million Geräte sollen künftig pro Quadratkilometer versorgt werden können. Wieso aber brauchen wir einen neuen Standard? Konnten wir mit 4G und allen anderen technischen Vorgängern nicht genügend miteinander kommunizieren? Und stören uns die wenigen Sekunden Verzögerungen tatsächlich in unserem Alltag? Die technische Antwort auf diese Fragen lautet, dass sich die Anzahl an Interaktionen und sowohl die dabei entstehende Datenmenge als auch die Notwendigkeit komplikationsfreier Verbindungen rasant steigern werden. Wenn Autos automatisch und ohne Unfall fahren sollen und gleichzeitig die Kapazität vorhanden sein muss, um den Kühlschrank mit Informationen zu versorgen, haben wir es mit einer Unmenge an Daten zu tun, die ohne Verzögerung an ihr Ziel gelangen müssen. Alleine ein autonomes Fahrzeug soll gemäß einer Berechnung von Intel vier Terabyte Daten pro Tag generieren.
Noch ist 5G nicht flächendeckend umgesetzt. Doch erste Anwendungen stehen bereits in den Startlöchern, zum Beispiel der in einem österreichischen Informatikunternehmen programmierte ›Bee-O-Meter‹, ein smarter Bienenstock, der mit 5G-Technologie ausfliegende und zurückkehrende Bienen zählt und BienenbesitzerInnen allfällige Missstände tagesaktuell mitteilt. 4Oder das modifizierte Handy, das es einer blinden Skifahrerin dank Reaktionszeiten von unter 10 Millisekunden ermöglicht, den Hang alleine zu meistern, indem sie die Anweisungen ihres Guides per Telefon annimmt. »Noemi ist blind – doch mit 5G Technologie fährt sie den Hang hinunter, als könne sie sehen« 5, lässt sich Deutschlands Vodafone-CEO Hannes Ametsreiter begeistert zitieren. Freilich gehören weder BienenzüchterInnen noch sehbehinderte Menschen zu der Zielgruppe von 5G. Beide fungieren vielmehr als werbetechnisch wirkungsvoll eingesetzte Nebenschauplätze einer auf Tempo getrimmten Wirtschaft und Gesellschaft.
Die anvisierte Kundschaft von 5G findet sich in der Großindustrie. Gemäß einer aktuellen Studie des Capgemini Research Institute plant ein Großteil der Unternehmen, die Technologie innerhalb von zwei Jahren nach ihrer Einführung zu implementieren. 6Die meisten erhoffen sich dadurch mehr Effizienz in der Produktion und eine größere Unabhängigkeit. Zu diesem Urteil kommt auch eine Befragung von Bitkom, dem Verband der deutschen Informations- und Telekommunikationsbranche, bei der 5G als ›Schlüsseltechnologie‹ für die deutsche Industrie angepriesen wird. 7Die weltweiten Ansprüche und Hoffnungen an die neue Technologie sind enorm. Bei BMW ist die Rede von »enormen Effizienzsteigerungen« 8. In Großbritannien erhofft man sich durch 5G eine jährliche Steigerung der Wirtschaftsleistung in der Höhe von 15 Milliarden Pfund.
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