Die Dromokratie definiert unsere Ansprüche und funktioniert als umfassender ideologischer Reproduktionsmechanismus. Niemand geht davon aus, dass ein bei Amazon Prime bestellter und innerhalb eines Tages gelieferter Massenartikel die gleiche Qualität besitzt wie ein sorgfältig ausgewähltes Produkt. Doch Geschwindigkeit selbst wird zum neuen Qualitätsmerkmal, und den Artikel, den ich jetzt haben will, kann ich notfalls morgen in besserer Version erneut kaufen. Die temporale Ordnung der Konsumation und die Just-in-Time Delivery folgen auf die postfordistische Just-in-Time Production. Das leitende Gebrauchswertversprechen ist nunmehr die Gegenwart. Ein Ergebnis hiervon sind noch schnellere Umschlagszeiten, ein anderes ist der Verlust jeglicher Zeitsouveränität.
Die Dromokratie ist eine Fahrgesellschaft,in der sich der Mensch beständig bewegen muss, wie er ebenso beständig in Bewegung versetzt wird. Die Propagierung einer pausenlosen Bewegung, die Hoffnung auf eine kinetische Utopie 27, in der Stillstand Regression bedeutet – das heißt: die Propagierung eines »produktivistischen Aktivismus« 28beziehungsweise der geschwindigkeitseuphorische Glaube daran, »ein Mehr und Besseres dadurch zu erreichen, dass man sich und/oder alles andere in Bewegung setzt« 29, und dies immer schneller –, ist wesentlicher Bestandteil einer hegemonial werdenden Bewegungsideologie. Sichtbar wird dies im Gebrauchswertversprechen neuer Verkehrsmittel, die einen neuen affektiven Zugang zur Stadt versprechen, indem sie die Bevölkerung in kollektive Bewegung versetzen, in der Re-Romantisierung der Geschwindigkeit, die sich von ihrem fordistischen Adrenalinrausch gelöst hat und nunmehr Freiheit durch Kontrolle verspricht, oder im städteplanerischen Umgang mit Mobilität als integrativem Versprechen.
Die Fahrgesellschaft konkretisiert sich in der Aufhebung selbständiger Bewegung. Jeder Schritt zu Fuß ist einer zu viel. So gehört die Kommodifizierung der letzten Meile zur ersten Aufgabe der Dromokratie. Doch auch in größerem Maßstab werden wieder Verkehrsvisionen ausgegraben. Dazu gehören autonome Fahrzeuge, der anvisierte Warentransport unter der Erde oder rasante Züge auf Hyperloops, dank dem die fast schon vergessene – das heißt: neoliberal vernachlässigte und kaputtgesparte – Bahn plötzlich wieder interessant für staatliche Investitionen wird.
Die Dromokratie ist eine Jagdgesellschaft.Den Wettkampf um die größtmögliche Geschwindigkeit kennen Jäger wie Gejagte. Die treibende Kraft ist dabei ein allgegenwärtiger Synchronisationsdruck, der den Menschen und der Umwelt eine Höchstgeschwindigkeit aufzwingt. Synchronisation ist allerdings bei Weitem nicht immer erfolgreich. Anpassungen führen im besten Falle zu Reibungen und Wartezeiten, in anderen Fällen aber zu umfassenden gesellschaftlichen Ausschlussmechanismen. Es entstehen Desynchronisationsprozesse, die zugleich Ausschluss bedeuten und produktive, sich vom universalisierten Rhythmus unterscheidende Beschleunigungserfahrungen und internalisierte Temporalitäten hervorrufen.
Als Jagdgesellschaft ist die Dromokratie im Wesentlichen eine Klassengesellschaft. Der Drang zur kinetischen Utopie bringt eine kinetische Elite sowie ausgeschlossene und verlangsamte Menschen hervor. Auf der einen Seite steht jene bourgeoise Gruppe, die in Hochgeschwindigkeit und grenzenlos um die Welt jettet, auf der anderen Seite stehen jene proletarisierten Schichten, die zur Immobilität gezwungen werden, sei es, indem sie die outgesourcte Arbeit in ihren Heimatländern übernehmen, indem sie an der Migration gehindert werden, oder indem sie in Terrordatenbanken erscheinen, die ihnen die problemlose Grenzüberquerung verunmöglichen.
Geschwindigkeit als gesellschaftliches Verhältnis ist immer ein Ergebnis einer staatlichen Infrastruktur, das heißt von Räumen, Grenzen, Überwachung und Kontrollen. Darin verborgen liegt zugleich die immanent militaristische Komponente der Dromokratie. Geschwindigkeit war zwar immer Teil einer militärischen Logik. So berichtete schon der chinesische Militärstratege Sun-Tsu, dass Schnelligkeit »die Essenz des Krieges« 30sei. Heute aber dehnt sich die militärische Dimension von machtvoller Geschwindigkeit aus und wird zum festen Bestandteil des zivilen dromokratischen Alltages.
Eine emanzipatorische Bewegung kämpft für die Politisierung der Geschwindigkeit.Die Dromokratie ist nicht mehr aufzuhalten. Der einzige Weg zur Selbstbestimmung liegt in der Politisierung der Geschwindigkeit und ihrer Zeiterfahrungen – dies bedingt das Wissen um die Historizität kapitalistischer Strukturen und Widersprüche. Diesem Wissen enthalten ist die Überzeugung, dass eine Perspektive jenseits rationalisierender leerer Zeit und chronopolitischer Machtmechanismen möglich ist.
1Vgl. Knight, Rob: Top 20 most annoying tech problems, The Independent, 26. 03. 2019, < https://www.independent.co.uk/life-style/gadgets-and-tech/techgadget-break-anger-top-problems-survey-a8840781.html>, Stand: 27. 09. 2019.
2Brutlag, Jake: Speed Matters for Google Web Search, Google, 22. 06. 2009, < http://services.google.com/fh/files/blogs/google_delayexp.pdf>. Nicht nachweisbar ist hingegen die oft gemachte Behauptung, Amazon habe berechnet, dass 100 Millisekunden Verzögerung zu einem Rückgang von einem Prozent im Verkauf führen.
3Vgl. Akamai: Online Retail Performance Report, 09. 04. 2017, < https://www.akamai.com/uk/en/about/news/press/2017-press/akamai-releases-spring-2017-state-of-online-retail-performance-report.jsp>, Stand: 27. 09. 2019.
4Vgl. Prenner, Thomas: Drei startet mit 5G-Netz in Linz, 20. 06. 2019, < https://futurezone.at/produkte/drei-startet-mit-5g-netz-in-linz/400528045>, Stand: 27. 09. 2019.
5Schamberg, Jörg: Vodafone: Blinde Skifahrerin fährt Steilhang mit Hilfe von 5G herunter, 14. 06. 2019, < https://www.onlinekosten.de/news/vodafoneblinde-skifahrerin-faehrt-steilhang-mit-hilfe-von-5g-herunter_220008.html>, Stand: 18. 09. 2019.
6Vgl. Capgemini: 5G. Expectations and use-cases for industrial companies, 06. 06. 2019, < https://www.capgemini.com/research/5g-in-industrial-operations>, Stand: 28. 09. 2019.
7Vgl. Bitkom: Großteil der deutschen Industrie plant mit 5G, < https://www.bitkom.org/Presse/Presseinformation/Grossteil-der-deutschen-Industrieplant-mit-5G>, Stand: 18. 09. 2019.
8Bleich, Holger: Deutsche Industrie setzt auf eigene 5G-Campusnetze, heise online, < https://www.heise.de/newsticker/meldung/Deutsche-Industrie-setzt-auf-eigene-5G-Campusnetze-4403687.html>, Stand: 18. 09. 2019.
9Vgl. Barclays: 5G: A transformative technology, 03. 04. 2019, < https://www.barclayscorporate.com/insights/innovation/5g-a-transformative-technology>, Stand: 26. 09. 2019.
10World Economic Forum: How 5G could speed up global growth, World Economic Forum, < https://www.weforum.org/agenda/2018/01/5g-mobile-speed-global-gdp-growth>, Stand: 18. 09. 2019.
11Vgl. Daum, Timo: Die künstliche Intelligenz des Kapitals, Hamburg 2019, S. 29.
12Vgl. Feustel, Robert: »Am Anfang war die Information«: Digitalisierung als Religion, Berlin 2018.
13Lücke, Hayo: Zu Besuch bei e.Go Mobile: So hilft 5G beim Autobau, inside digital, 19. 06. 2019, < https://www.inside-digital.de/news/zu-besuch-bei-e-go-mobile-so-hilft-5g-beim-autobau>, Stand: 18. 09. 2019.
14Vgl. Rosa, Hartmut: Beschleunigung. Die Veränderung der Zeitstrukturen in der Moderne, Frankfurt am Main 2005; Rosa, Hartmut: Beschleunigung und Entfremdung, Frankfurt am Main 2013; Rosa, Hartmut: Weltbeziehungen im Zeitalter der Beschleunigung. Umrisse einer neuen Gesellschaftskritik, Frankfurt am Main 2012.
15Vgl. Tomlinson, John: The Culture of Speed: The Coming of Immediacy, London 2007, S. 84.
16Agger, Ben: Time Robbers, Time Rebels: Limits to Fast Capital, in: Hassan, Robert; Purser, Ronald (Hg.): 24/7: Time and temporality in the network society, Stanford 2007, S. 230.
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