9Die Schweizer FDP will »dank 5G den Fortschritt ermöglichen«, wie es in einer Facebook-Werbeanzeige heißt. »[S]peed up global growth« 10, lautet die Hoffnung auf 5G beim World Economic Forum. Big Data, Blockchain, Augmented Reality oder Virtual Reality heißen die damit verknüpften Hoffnungsträger. Von einer Revolution ist an manchen Stellen gar die Rede. Wie all dies konkret umgesetzt werden soll, bleibt allerdings hinter wirkungsstarken Stichworten verborgen. Diese Diskrepanz ist nicht neu. Menschen neigen dazu, Technologien zu überschätzen, die sie nicht verstehen 11– unter dem treffenden Titel »Digitalisierung als Religion« charakterisiert der deutsche Kulturwissenschaftler Robert Feustel die Zuschreibung von übermenschlichen Fähigkeiten, in der sich 5G-ApologetInnen in nichts von ihren esoterischen GegnerInnen unterscheiden. 12So vermischen sich in der hoffnungsvoll erwarteten Implementierung von 5G Voraussagen über abschätzbare Anwendungsmöglichkeiten, die vor allem die Effizienzsteigerung in der Produktion betreffen, mit einer diffusen Hoffnung auf eine wirtschaftlich sorgenfreie Zukunft durch höhere Datengeschwindigkeit und komplikationsfreie Telekommunikation.
»Umstellungen sind natürlich immer schwierig. Das fängt schon im Kopf an« 13, meinte der Vodafone-Chef Ametsreiter, als er bei einem seiner Fabrikbesuche einmal mehr auf sein liebstes Thema 5G zu sprechen kam. Der Kopf, auch Ideologie genannt, implementiert, was die Wirtschaft vorgibt. Zugleich folgt die Wirtschaft dem, was der Kopf als beste Strategie empfiehlt. Die etwas andere Antwort auf die Frage, wieso unsere Gesellschaft dem Ruf nach 5G und anderen Beschleunigungstechnologien erliegt, lautet deswegen, dass wir endgültig das Zeitalter der Geschwindigkeit erreicht haben. Die Prämisse, dass Langsamkeit störend wirkt und alles schneller zu gehen hat, hat sich als fetischisierte Grundlage festgesetzt. Diesem Primat ordnen wir uns unter, ohne zu viele Gedanken über Folgen und Nebenwirkungen zu verschwenden. Wir erleben eine aufkommende Hegemonie der Geschwindigkeit, in der das Rennen um das Höchsttempo zur Grundlage einer staatlichen, wirtschaftlichen wie persönlichen Handlungsmaxime wird. Technologische Erneuerung und Ideologie gehen dabei Hand in Hand. So gehören geschwindigkeitseuphorische Visionen zu den leitenden Versprechen unserer Zeit. Sie bewirken Investitionen, Hoffnungen und Forschungsinteressen zugleich.
Was heute versprochen wird, wird morgen nur selten eingehalten. Doch die kulturpessimistische Betrachtung, dass zwischen Anspruch und Realität eine Lücke klafft, ist nicht neu. Kein Tag vergeht, an dem sich niemand lautstark darüber beklagt, dass es um uns herum viel zu schnell zu- und hergeht und wir diese Entwicklung nicht mehr aufhalten können – es sei denn, wir begeben uns, wie Ferienprospekte immer wieder empfehlen, an kommodifizierte – das heißt: zur Ware gewordene – Orte der Entschleunigung, an denen wir uns von unseren Eilkrankheiten erholen. Auch wissenschaftlich hat man sich in den letzten Jahren dem Zustand der Beschleunigung genähert. Hartmut Rosa als bekanntester deutschsprachiger Beschleunigungsforscher hat in den letzten fünfzehn Jahren drei Bücher sowie zahlreiche kritische Artikel und Interviews veröffentlicht, in denen er systematisch die Prozesse der sozialen Beschleunigung und Entfremdung beschreibt. 14Beschleunigung, so seine leitende These, ist sowohl zentrales Merkmal wie auch leitendes Versprechen der Moderne. Dabei unterscheidet er zwischen einer technischen Beschleunigung, einer Beschleunigung des sozialen Wandels und einer Beschleunigung des Lebenstempos, die sich jedoch allesamt als Strukturen gegenseitig bedingen und verstärken. Neben Rosa entstanden vor allem im englischsprachigen Raum zahlreiche weitere kritische wie auch liberal populärwissenschaftliche Werke über die gesteigerte gesellschaftliche Geschwindigkeit beziehungsweise deren Bedeutung. 2003 beschrieb beispielsweise Teresa Brennan in Globalization and Its Terrors: Daily Life in the West , wie ein sich steigerndes Lebens- und Wirtschaftstempo zu Umweltzerstörung und Gesundheitsproblemen führe. Die Befunde scheinen zutreffend; dass es sich dabei allerdings um eine quasi natürliche ›organische Zeit‹ als anthropologische Konstante handelt, die mehr und mehr angegriffen wird und dadurch Stresssymptome verursacht, wurde später unter anderem von John Tomlinson angezweifelt. 15Dieser veröffentlichte 2007 mit The Culture of Speed selbst ein Werk darüber, wie Geschwindigkeit die kulturelle Imagination unserer Gesellschaften prägt. Dass sowohl Brennan als auch Tomlinson Geschwindigkeit eng mit der Zeit verknüpfen, ist kein Zufall. Geschwindigkeit wird nicht nur in ihrer physikalischen Definition über Zeitphänomene erfahren. Beispielsweise führen Beschleunigungen im Transportbereich zu kürzeren Transportzeiten, die Steigerung des Lebenstempos kann zu Zeitdruck führen, die Beschleunigung der sozialen Medien bringt verkürzte Halbwertszeiten von Beiträgen mit sich, die Arbeitsgeschwindigkeit konfiguriert den Tagesrhythmus usw. Auch andere AutorInnen gehen von solchen Verbindungen aus. 2007 erschien mit 24/7: Time and Temporality in the Network Society beispielsweise ein Sammelband mit Fragestellungen zum Thema Zeit und Beschleunigung. Die leitende These darin lautet: Abseits der Uhrzeit hat sich mit der Digitalisierung und ihrer Datengeschwindigkeit eine Netzwerkzeit entwickelt, die eine ganz eigene Charakteristik besitzt. Ein Jahr später veröffentlichten Howard Rosenberg und Charles S. Feldman mit No Time To Think einen Essay über die Probleme beschleunigter Medienarbeit und den Verlust medialer Zeitsouveränität im sich etablierenden 24/7-Rhythmus. 2014 forderte Sarah Sharma in In the Meantime in kritischer Ergänzung zu bisherigen Analysen dazu auf, in mikropolitischen Prozessen genauer hinzuschauen, da unterschiedliche Temporalitäten unterschiedlichen Geschwindigkeitsvorgaben erliegen. Dies fand nur bedingt Gehör. 2015 erschienen mit Pressed for Time: The Acceleration of Life in Digital Capitalism von Judy Wajcman, das sich mit empirischen Studien zur Digitalisierung auseinandersetzt, und John Robert McNeills The Great Acceleration , das die Beschleunigung von Umweltzerstörung und Naturveränderungen thematisiert, weitere Werke, die mit ihrem jeweils eigenen Befund einer allgemeinen Beschleunigung Aufmerksamkeit erregten. Vor allem im US-amerikanischen Raum gehört es zu den beliebten rhetorischen Stilmitteln, Diagnosen möglichst überspitzt zu formulieren. Ob tatsächlich, wie Ben Agger es in einem Aufsatz tut, von einem »Time Fascism« 16gesprochen werden sollte, verstanden als Erfahrung, vom herrschenden Zeitdruck zerquetscht zu werden, darf angezweifelt werden. Trotz solcher Befunde hat auch Agger Wesentliches zur Erforschung der Geschwindigkeit und zu den damit verbundenen Phänomenen beigetragen. Das Magazin Fast Capitalism , benannt nach einem seiner Werke bzw. Begriffe 17, macht es sich beispielsweise seit 2005 zur Aufgabe, das titelgebende Thema regelmäßig zu beleuchten. Dem auch im vorliegenden Essay folgenden Anspruch, dass »Geschwindigkeit soziale Praktiken formt« und »Sozialwissenschaften die Macht der Bewegung als fundamentale Kraft im Alltag« berücksichtigen müssen, da »der Einfluss [von Geschwindigkeit und Beschleunigung] auf Kultur, Wirtschaft und Gesellschaft bisher noch nicht vollständig erfasst wurde« 18, konnte das Magazin allerdings nur im ersten Heft gerecht werden.
Nicht alle Befunde wurden nach der Jahrtausendwende gemacht. Bekanntere Beobachtungen von Beschleunigungsphänomenen finden sich schon in Heidi und Alvin Tofflers Future Shock (1970) als Befund einer Beschleunigung des Lebenstempos und eines damit einhergehenden Zeitdrucks. Der darin vollzogene Zeitbefund wurde von liberalen KritikerInnen in regelmäßigem Abstand erneuert, beispielsweise in Steven Greenhouses The Great American Time Squeeze (1992), worin dieser den zunehmenden Stress aufgrund von Zeitknappheit anprangert, oder in Douglas Rushkoffs Present Shock (2013), worin dieser unsystematisch auf das Problem der Echtzeit eingeht. Auch die Mehrheit der marxistischen oder zumindest materialistischen Analysen über Beschleunigung und Geschwindigkeit greift direkt oder indirekt auf ein Werk zurück, dessen Veröffentlichung mittlerweile drei Jahrzehnte zurückliegt. Bis heute wird immer wieder auf David Harveys 1989 erschienenes Buch The Condition of Postmodernity und seinen Befund einer anhaltenden ›Raum-Zeit-Verdichtung‹ Bezug genommen. Die Geschichte des Kapitalismus gehe, so Harveys leitende These, mit einer räumlichen Expansion und einem Ausbau der Transport- oder Kommunikationsinfrastruktur einher. Das Kapital nimmt sich der Welt an und überwindet (für sich selbst) jede räumliche Grenze. Wo Waren oder Menschen immer schneller hin und hergeschoben werden, verändert sich die Raumwahrnehmung. Anders gesagt: Die Welt schrumpft. Dabei ist Harveys These durchaus dialektisch gedacht: Entlang der schrumpfenden Welt entstehen beispielsweise immer wieder neue Beharrungskräfte, die zur Statik und Immobilität zwingen. Der Blick auf diese Dialektik ist wichtig, weil sie an so manchen Stellen auch heute zu beobachten ist: So hat sich beispielsweise die durchschnittliche Zeit, die wir mit der Zubereitung von Nahrung verbringen, in den letzten Jahrzehnten rasant verkürzt, während wir mehr Zeit im Supermarkt (oder auf Foodblogs) verbringen als je zuvor. Auch das Internet erspart uns mit seiner rasanten Datenverbindung vieles, zugleich verschwenden wir immer mehr Zeit auf YouTube und anderen Webseiten. Beschleunigung und Stillstand beziehungsweise Zeitgewinn und Zeitverlust können nur in ihrer gegenseitigen Abhängigkeit verstanden werden. 19
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