Neben der Vielzahl an theoretischen Untersuchungen gibt es auch empirische Forschungsansätze, deren Ergebnisse im Gegensatz zu den kulturdiagnostischen Befunden regionale Unterschiede und einen eher zurückhaltenderen Befund über den Zustand der Beschleunigung offenbaren. Oriel Sullivan und Jonathan Gershuny haben 2018 beispielsweise Daten ausgewertet, die in Großbritannien anhand von Zeittagebüchern erfasst wurden. 20Zahlreiche Befragte haben zwischen 2005 und 2015 immer wieder festgehalten, welche Aktivitäten sie ausübten. Weder bezüglich der tatsächlichen Zunahme von Aktivitäten, etwa im Sinne einer zunehmenden Fragmentierung des Alltages, noch bezüglich des gefühlten Zeitstresses lässt sich eine signifikante Zunahme ausmachen. Sullivan und Gershuny nennen einige mögliche Indizien, warum der Befund des persönlichen Zeitdruckes in den letzten Jahren dennoch so oft aufgestellt wurde. Dazu gehört unter anderem der soziale Hintergrund der Befragten wie der Forschenden. Wird beispielsweise die Verfügbarkeit von Zeit rückblickend über das eigene Leben betrachtet, so erscheint sie im Alter unter Umständen geringer als in den jungen Jahren. Plötzlich gilt es, Familie und Arbeit unter einen Hut zu kriegen, oder die Arbeitsbelastung wird höher. Dies entspricht aber vor allem der Lebenserfahrung sozial höhergestellter Personen mit ihrer kontinuierlichen Karriereleiter. Auch andere Annahmen betreffen die sozio-ökonomischen Grundlagen der Betroffenen. Es gibt Befunde aus den 1990er Jahren, die implizieren, dass 50+-Stunden-Wochen in den USA vor allem der Realität höhergestellter Angestellter mit College-Background entsprechen. Hinzu kommt das US-amerikanische Spezifikum, dass Festangestellte in den USA lange Zeit einen schlechteren Arbeitsschutz bezüglich Überstunden besaßen als Menschen mit Stundenlohn. Die Gruppe von Personen, die eine hohe Anzahl an Wochenstunden arbeiten, ist zugleich jene Schicht, die öffentliche Diskurse stärker prägt als andere Schichten. 21Das heißt nicht, dass ProletarierInnen weniger Zeitdruck empfinden oder weniger arbeiten würden – insbesondere dann nicht, wenn die unbezahlte Reproduktionsarbeit mitberücksichtigt wird. Vielleicht werden der proletarische Arbeitsstress und Zeitdruck aber stärker von anderen Problemen überlagert und erscheinen eher als kontinuierlicher Zustand und weniger als plötzliche Entwicklung der letzten Jahre. Es gibt jedoch durchaus auch empirische Studien, die von einer allgemeinen Zunahme des Zeitdruckes infolge einer wahrgenommenen Beschleunigung sprechen. John Robinson und Geoffrey Godbey untersuchten beispielsweise 2005 anhand von Fragebögen das individuelle Gefühl des Gehetztseins und bemerkten, dass sich Menschen im Zeitraum zwischen 1965 und 2001, trotz nicht im gleichen Maße steigender Zeitbelastung, mehr und mehr gestresst und gehetzt fühlten. 22
Auf den Umgang mit diesen unterschiedlichen Befunden wird später noch genauer eingegangen; so viel allerdings vorweg: Ob empirisch immer exakt belegbar oder nicht, der Wert kulturdiagnostischer Befunde liegt darin, dass sie sich ein Bild über allgemeinere Tendenzen, Prozesse und Widersprüche machen. Dabei helfen bestehende Konzepte und Begriffe. Wer sich beispielsweise mit neueren marxistischen Theorien auskennt, wird bald schon merken, dass etliche der im Folgenden verwendeten Begriffe durch regulationstheoretische Überlegungen angeregt sind. Regulationstheorien gehen davon aus, dass sich einzelne Epochen des Kapitalismus unterschiedlich beschreiben lassen. Diese besitzen jeweils ein spezifisches Akkumulationsregime – das heißt: eine bestimmte ökonomische Ordnung der Produktionssphäre – sowie einen dazugehörigen Regulationsmodus zur Stabilisierung der sozialen Verhältnisse, also eine bestimmte soziale Ordnung der unterschiedlichen Lebenssphären. ›Regulieren‹ bedeutet diesbezüglich, wie es in einer regulationstheoretischen Untersuchung zu Frankreich zusammengefasst wird, eine »Kombination von Formen der Anpassung von Erwartungen und widersprüchlichen Verhaltensweisen individueller Akteure an die kollektiven Prinzipien des Akkumulationsregimes« 23. Es geht im Folgenden nicht darum, die Frage zu eröffnen, ob tatsächlich ein neues Akkumulationsregime eingetreten ist. Hierfür fehlt die tiefere ökonomische Untersuchung. Von Interesse ist auch weniger die Analyse einzelner Phänomene oder Ereignisse der Geschwindigkeit, sondern vielmehr die in die Zukunft gerichtete kulturanalytische Frage, ob es einen Wandel gibt, der staatliches wie individuelles Handeln prägt und in Alltagspraktiken sowie kulturellen Produkten sichtbar wird. Wie allerdings kann etwas sichtbar werden, das heute erst an seinem Anfang steht? Es geht im Folgenden nicht um ein detailgetreues Abbild der Zukunft. Doch bestehende Ideen, Phänomene oder Narrative können entlang einer einfachen Grundannahme zu Ende gedacht und analysiert werden: Wer die Dynamiken des 21. Jahrhunderts verstehen will, muss die Geschwindigkeit verstehen. Wer Geschwindigkeit verstehen will, muss sie als gesellschaftliches Verhältnis lesen. Wer dieses überwinden will, muss die Geschwindigkeit politisieren.
DROMOLOGIE UND DROMOKRATIE
Der bis heute bekannteste Vertreter der Geschwindigkeits- und Beschleunigungsforschung ist der 2018 verstorbene Paul Virilio. Auf ihn geht die Forderung nach dromologischen Untersuchungen zurück. Ausgehend vom griechischen dromos , dem Lauf, will die dromologische Fragestellung die Logik der Bewegung untersuchen, die gemäß ihrer Wortbedeutung gleichzeitig auch Wettlauf und Rennbahn ist. 24In diesem Ansatz ist eine zentrale These enthalten: Macht korreliert mit Geschwindigkeit. Diese nimmt in unterschiedlichen Epochen eine unterschiedlich große Rolle ein. Heute jedoch wirkt sie stärker denn je. Was sich etabliert, ist eine neue Herrschaftsform, die Dromokratie, verstanden als Gesellschaft, in der die Herrschaft des Schnelleren gilt, was für Virilio zugleich auch »Fahrgesellschaft« und »Jagdgesellschaft« bedeutet. 25Als Mittel der Durchsetzung dromokratischer Zustände sieht Virilio die Chronopolitik. Gemeint ist damit eine Fülle an Regulationsinstrumenten, um über »Rhythmus, Dauer, Tempo, Sequenzierung und Synchronisierung von Ereignissen und Aktivitäten« 26zu bestimmen, so die pointierte Zusammenfassung von Hartmut Rosa. Bei diesem wird Chronopolitik vor allem als Teil der Beschleunigungsdynamik, bei Virilio als Teil eines diffusen Machtkonzepts angedacht. Chronopolitik kann jedoch noch von einer anderen Seite hergeleitet werden. Sie entspricht einer Herrschafts- und Machtform des Kapitals, deren totalitäre Ausformung die Dromokratie darstellt.
Die Dromokratie ist die Herrschaft des Schnelleren.Wer über eine größere Geschwindigkeit verfügt, besitzt einen politischen wie finanziellen Vorteil. Entsprechend einig sind sich Industrie und Staat in den führenden Nationen, dass man der technologischen Entwicklung nicht hinterherhinken darf, sondern sie möglichst führend umsetzen muss. Der Staat wird zum Geschwindigkeitsmanager. Als präfigurierender Taktgeber der dromokratischen Geschwindigkeit tritt der Hochfrequenzhandel auf. Während sowohl der computerunterstützte als auch der computergenerierte Börsenhandel die Geschwindigkeit postfordistischer Finanzmärkte bereits rasant beschleunigten, ist seit einem Jahrzehnt eine neue qualitative Steigerung zu beobachten. Der Hochfrequenzhandel nimmt vorweg, worum es bei der Herrschaft des Schnelleren zukünftig gehen wird: Das Rennen um Echtzeit wird zum kostenintensiven Begleiter unternehmerischen als auch persönlichen Handelns. Sichtbar wird dies in der zeitgenössischen Unternehmerphilosophie. Jeff Bezos’ Wunsch, dass Amazon immer am ›Day 1‹ stehen bleibt, spiegelt den Drang nach Echtzeit, vergleichbar mit dem Wunsch verschiedener MillionärInnen, den menschlichen Alterungsprozess aufzuheben, um auch körperlich in der ewigen Gegenwart aufzugehen.
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