Die Frau an der Leine wird immer kleiner und gesteht: „Eine Decke. Die Leine mit seinem Halsband und eine Flasche Wasser.“
Nikolas kennt sich offenbar gut mit den treuen Vierbeinern aus. Er sieht mich an und fragt: „Magst du Hunde?“ Ich nicke übereifrig.
„Vielleicht kann Hektor kurz bei uns bleiben? Sie können sich dann auf Ihrem Sitzplatz ausruhen und ihn dann wieder abholen?“
„Was sind Sie nur für freundliche Menschen? Hier. Ich gehe schnell seine Decke holen.“
Die Leine bekommen wir schnell in die Hand gedrückt, die Frau verschwindet durch die Glastür und Hektor schaut uns fragend an. Ich beginne ihn am Kopf zu kraulen und schon liegt er mir zu Füßen.
„Du bist ein ganzer Braver, ja“, quietsche ich mit einer Stimme, in der man nur mit Babys und Tieren spricht.
„Ja, du magst Hunde eindeutig. Er scheint dich auch zu mögen.“ Ich grinse und Nikolas grinst mit. Die handyverliebte Frau taucht mit Hektors Kuscheldecke auf.
„Ich danke Ihnen wirklich sehr. Ich heiße übrigens Britta.“
„Ruhen Sie sich aus, Britta. Hier ist Ihr Handy. Sind Sie berühmt oder so, weil Sie Fans haben?“
Ich mag Nikolas offene Art einfach Fragen zu stellen, wenn er etwas wissen möchte.
„Ja, mein Instagram-Account ist schon ziemlich wichtig.“
Sie läuft an uns vorbei, Richtung der hinteren Schiebetür und zu ihrem Sitzplatz, während ich Nikolas auslache.
„Du hattest so Recht. Aber das rechtfertigt immer noch nicht, dass sie ihren Hund nicht erziehen kann.“
Hektor schaut mich müde an und ist mit dem nächsten Wimpernschlag eingeschlafen.

***
Stefanie hatte sich und ihrem Sohn ein leichtes Abendessen zurechtgemacht, was Jakob wieder nicht anrührte. Ein Mini-Fortschritt ist das Beste, was sie heute bekommen konnte, auch wenn es nur ein Tierlaut war. Jakob wurde schon von seiner Mutter mit liebevollen Worten ins Bett gebracht.
Jetzt sitzt Stefanie auf der Couch, mit einem Gläschen Wein in der Hand und ihrem Laptop auf dem Schoß. Sie hatte heute so viele Termine erledigen müssen, dass sie doch fast ihre Arbeit vergessen hätte. Plötzlich sieht sie auf. Hat sie ein Telefonat vergessen wegzudrücken? Läuft das Radio in der Küche? Sind Passanten auf der Straße spazieren?
Sie steht auf, um nachzusehen. Das Telefon steht im Flur an seinem Platz, das Radio ist ausgeschaltet und alle Fenster sind geschlossen. Sie horcht in die ruhige Wohnung hinein. Der Aufprall einer fallenden Stecknadel wäre laut gewesen.
„…vielleicht hat dich jemand ausgelacht oder du wurdest beschimpft… Mama schimpft oft mit mir, weil ich nicht spreche, aber ich kann sprechen. Ich habe nur Angst, etwas Falsches zu sagen und …“
Stefanie kann es nicht glauben. Ihr Sohn spricht. Zwar nicht mit ihr und nicht besonders laut, aber in deutlichen Wörtern und vollständigen Sätzen. Sie will Jakob nicht belauschen, aber sie hört ihren Sohn gerade zum ersten Mal sprechen. Er hat ein zartes Stimmchen. Das muss sie unbedingt Herrn Dr. Müller berichten, wenn sie die Blutergebnisse besprechen.
Wieder zurück auf der Couch öffnet sie ein neues Word-Dokument und beginnt aufzuschreiben, was sie gerade gehört hat. Sie würde so gerne mal mit ihrem Sohn sprechen, verstehen was ihn bedrückt und herausfinden, wieso er bisher noch nicht gesprochen hat.

***
Meine Hand wird abgeleckt.
„Hektor. Was machst du da? Hör auf damit.“
„Guten Morgen. Haben Sie gut geruht?“, begrüßt mich Nikolas belustigt.
„Ich schlafe nicht.“
„Britta will ihren Hund wieder haben. Lässt du die Leine los?“
Britta steht, auf ihr Handy schauend, neben unserer Sitzbank und streckt mir ihre Hand entgegen, in die ich Hektors Leine lege.
„Lassen Sie sich nicht wieder durch die Gänge ziehen, Britta“, witzelt Nikolas vor sich hin, als diese uns verlässt.
„Was erleben denn Jakob und Stefanie gerade?“
Ich gebe ihm eine neckende Antwort: „Wenn du meine Gedanken lesen könntest, müsste ich dir nicht alles erzählen.“
Ich bin leider schon wieder etwas genervt. Ich will meine Ruhe haben und träumen.
„Wir erreichen in Kürze unser nächstes Ziel: Frankfurt Hauptbahnhof“, schallt es durch die Lautsprecher.
Viele Gäste sind zugestiegen, unter anderem auch in unserem Abteil. Ein älterer Herr mit seiner Enkelin, zwei junge Männer mit großen Rucksäcken und ein etwas älterer Mann mit einer braunen Lederaktentasche.
„Oh Mike. Ich freue mich so auf unserer Wanderung.“
„Ja, Schatz. Unsere Flitterwochen haben wir uns verdient.“
Die beiden Männer nehmen in Sichtweite ihre Plätze ein und die unsympathische Zugmitarbeiterin ist schon zur Stelle.
„Zugestiegene Fahrgäste, bitte Ihre Tickets.“
Ich lächele in mich hinein. Wie kann man so lustlos bei der Arbeit sein? Die beiden jungen Männer kramen in ihren Wanderrucksäcken und zeigen der Mitarbeiterin die zerknitterten Tickets.
„Meine Herren, dies sind äußerst wichtige Dokumente. Bitte geben Sie acht, dass diese leserlich bleiben, sonst kommen Sie nicht mehr nach Hause.“
Die beiden schauen geknickt aus dem Fenster und die große Frau mit ihrem strengen Zopf läuft an uns vorbei.
Mein Sitznachbar spricht sie an: „Entschuldigung, verzeihen Sie...“
„Nikolas, lass es...“, versuche ich ihn aufzuhalten.
„Sie machen Ihre Arbeit nicht besonders gerne, oder?“ Er hat echt nichts Besseres zu tun, als sie mit ihrer Unfreundlichkeit zu konfrontieren. Vielleicht hat sie einfach einen schlechten Tag.
Die Bahnfrau bleibt abrupt stehen, schaut mit einem angestrengten Blick auf Nikolas herunter und betont jedes einzelne Wort ihrer Frage bedrohlich langsam: „Haben Sie Kinder, junger Mann?“
„Ähm, nein“, gibt Nikolas zu.
„Dann stellen Sie sich vor, Sie hätten welche, die Sie dieses Wochenende nicht sehen können. Ein Kollege musste die Schicht tauschen. Meine Zwillinge werden morgen zehn Jahre alt.“
Nikolas stellt seinen Ellenbogen auf der äußeren Armlehne auf und wirft ihr einen verzeihenden Blick zu.
„Entschuldigen Sie. Ich trete öfter in Fettnäpfchen. Aber trotzdem müssen Sie Ihre Laune nicht an Ihrer Kundschaft auslassen.“
Die Dame läuft kopfschüttelnd davon.
„Die Arme. Auch noch Zwillinge. Was wohl so wichtig von dem Kollegen war, die Schicht zu tauschen?“
„Wir werden es nie herausfinden, Abby. Erzählst du mir, wie deine Geschichte weitergeht?“
„Klar. Wie hättest du dir nur während der Zugfahrt die Zeit vertrieben, wenn du mich nicht kennengelernt hättest?“
Er lächelt mich nur an und schließt die Augen, um meiner Stimme zu lauschen.

Kapitel 4
Der Tag des Termins beim Kinderarzt ist angebrochen. Seit dem einen Abend, an dem Jakob mit den Plüschtieren sprach, hat er es leider nicht wiederholt.
Stefanie zieht Jakob gerade noch eine leichte Jacke über und unten im Treppenhaus darf er in seinen Kinderwagen. Jakob hat schlecht geschlafen, deshalb erlaubt ihm seine Mutter heute, nicht laufen zu müssen.
Im Wartezimmer angekommen sitzen die beiden auf Stühlen direkt neben einem Tisch, auf dem Infomaterialien liegen:
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