Jakobs Mutter hat aufmerksam zugehört, ist dankbar über die neu gewonnenen Erkenntnisse und überrascht über die ehrlichen Selbstzweifel des Arztes.
„Haben Sie denn eine Idee, wie wir den Grund seines Problems herausfinden können, Herr Doktor?“
„Lassen Sie mich doch bitte ein paar Minuten alleine mit Ihrem Sohn. Ich rufe Sie gleich wieder herein.“
„Na, wenn Sie meinen, dadurch bahnbrechende Erkenntnisse zu gewinnen. Bitte schön. Eine Portion schweigendes Kind.“
Jakobs Mutter ist aufgestanden, setzt ihren Sohn auf den Stuhl und verlässt den Raum. Jakob blickt ihr hinterher, aber ob er wirklich wahrnimmt, dass sie gegangen ist, weiß niemand.
Der Arzt wendet sich dem Jungen zu und schenkt ihm seine volle Aufmerksamkeit.
„Jakob, weißt du, wer ich bin?“
Jakob nickt und umklammert die Stofftiere noch fester.
„Gefallen dir denn die Plüschtiere in deinem Arm?“
Jakob blickt kurz zu dem Drachen und dem Krokodil. Es scheint, als wolle er sich vergewissern, dass sie noch da sind, bevor er wieder nickt.
„Du kannst verstehen, was ich sage. Kannst du mir mal ein Wort nachsprechen? Wir versuchen es. MA-MA. Versuch es mal. Ist ganz einfach. MA-MA.“
Jakob sieht den Arzt zwar an, aber er öffnet nicht einmal seinen Mund, um es zu versuchen. Die Fragestunde geht weiter.
„Ist es denn schön bei euch zuhause?“
Der Junge blickt schon während der Frage wieder auf die weißen Fliesen. Es klopft an der Tür und die blonden langen Haare von Jakobs Mutter erscheinen im Türrahmen, gefolgt von ihrem besorgten Gesicht.
„Entschuldigen Sie. Ist alles in Ordnung?“
„Kommen Sie herein. Also, er kommuniziert, indem er nickt oder den Kopf schüttelt. Während meiner Fragen umklammerte er die Plüschtiere fester. Schlauer geworden bin ich jedoch noch nicht.“
Herr Dr. Müller steht auf und geht zur Tür. Mit einer Mitarbeiterin kommt er wieder herein.
„Jakob, das ist Angelika. Sie wird mit dir hinausgehen. Ich spreche mit deiner Mutter kurz alleine.“
Die Frau im lila T-Shirt nimmt Jakob an die Hand. Er schaut seine Mutter verängstigt an. Zusammen verschwindet der kleine Lockenkopf mit der Arzthelferin durch die Tür.
„Solche Fragen möchte ich nicht unbedingt stellen, wenn die Kinder im Raum sind“, erklärt der Arzt, setzt sich zurück auf seinen Stuhl und fährt fort: „Gibt es denn irgendwelche negativen Ereignisse in seinem Leben, die ihn beeinflussen können?“
„Nein. Ich bin alleinerziehend und verbringe viel Zeit mit ihm. Er geht nicht in den Kindergarten. Ich arbeite von zu Hause aus.“
„Kommt er denn mit Gleichaltrigen in Kontakt?“
„Wir gehen regelmäßig gemeinsam auf den Spielplatz. Dort sind immer viele Kinder. Er sitzt aber dann alleine im Sandkasten oder möchte nicht von der Bank herunter, auf die ich mich gesetzt habe. Ich animiere ihn zum Rutschen oder Schaukeln. Ich saß schon öfter im Sandkasten als er. Meistens starrt er vor sich hin und wenn ich ihn rufe, kommt er sofort und wir gehen wieder nach Hause.“
„Sie sagten, Sie sind alleinerziehend. Hat Jakob zu seinem Vater Kontakt?“
„Als er geboren wurde, waren wir noch ein Paar. Je älter Jakob wurde, desto öfter stritten wir. Wir hatten zu unterschiedliche Meinungen was Kindererziehung anbelangt. Schließlich trennten wir uns und der Kontakt brach ab. Jakob kam mit zwei Jahren in einen Kindergarten. Es war schön und die Erzieherinnen liebten meinen Sohn. Als ich ins Home Office umstieg, beschloss ich, ihn dort abzumelden, um mir die Kosten zu sparen. Viele Kinder verbringen den Alltag nicht in einem Kindergarten und reden und spielen trotzdem.“
„Hat er denn mitbekommen, wie Sie sich stritten? Ich kann mich nicht daran erinnern, Ihren Ex-Mann je kennengelernt zu haben. Schließlich betreue ich Jakob schon seit seiner Geburt.“
„Auch wenn man denkt, man könne das vor den Kindern geheim halten, bekommen diese immer etwas mit. Wir versuchten ihn mit einzubeziehen, wenn wir uns wieder versöhnten. Wir lachten miteinander. Wir dachten, so würde er lernen, dass wir uns trotzdem noch lieb haben. Allerdings war er aber noch so klein. Thomas war nie richtig daran interessiert Arzttermine wahrzunehmen. Als sein Kind auf der Welt war, änderte sich daran nichts.“
„Hat Jakob jemals Erfahrungen mit Gewalt gemacht? Im Kindergarten? Zuhause?“
„Wir waren zuhause zwar laut, aber geschlagen haben wir uns zum Glück nicht. Seit wir alleine leben, habe ich noch ein größeres Bedürfnis, auf ihn aufzupassen. Ich könnte ihn niemals schlagen. Was genau im Kindergarten ablief, kann ich nicht beurteilen. Es gab nie eine Benachrichtigung, dass ihn ein Kind geschlagen hätte oder er selbst negativ aufgefallen war.“
„Wir nehmen Ihrem Sohn Blut ab und sehen uns in drei Tagen wieder. Sie versuchen weiterhin, ihm Essen zu geben. Vielleicht auch mal Gummibärchen oder etwas, das Kinder lieben. Er muss etwas essen. Trinken tut er?“
„Ja. Tee. Säfte. Wasser.“
Mit einem nachdenklichen Gesichtsausdruck tippt Herr Dr. Müller alle Informationen in sein Arztprogramm. Langsam nickt er.
„Gut. Und wie ist sein Stuhlgang?“
Jakobs Mutter verdreht vorsichtig die Augen, sodass es der Kinderarzt nicht mitbekommt. Sie weiß, dass der Stuhlgang nichts über das andauernde Schweigen ihres Sohnes aussagen wird.
„Sehr flüssig. Wie sollte er auch anders sein.“
„Immerhin trinkt er, was seinen Körper nicht austrocknet. Haben Sie es mit Malen, Basteln oder Farbspielen versucht?“
„Er möchte keinen Stift in die Hand nehmen. Mit Basteln habe ich es gar nicht versucht. Er dürfte Nudelpackungen aufreißen oder im Kartoffelbrei matschen, aber nichts davon rührt er an.“
„Bleiben Sie tapfer. Angelika wird ihm Blut abnehmen. In drei Tagen sprechen wir uns wieder.“
„Dankeschön.“
Etwas enttäuscht begleitet sie ihren Sohn ins Labor der Arztpraxis. Nachdem er das Blutabnehmen ohne Zucken überstanden hat, sind die beiden auf dem Weg nach Hause. Sie leben am Stadtrand und besonders Jakobs Mutter genießt die Spaziergänge über Feldwege, zwischen Wiesen und Wäldern.
Jakob weint wieder. Seine Mutter weiß nicht wieso.

Kapitel 2
„Entschuldigen Sie, ist hier noch frei?“
Ein Zittern durchfährt mich und reflexartig hebe ich meinen Rucksack auf den Boden.
„Ich wollte Sie nicht erschrecken. Entschuldigung.“
„Setzen Sie sich.“
„Wo fahren Sie hin?“
Ich rolle mit den Augen und antworte nur kurz: „Meine beste Freundin besuchen.“
Hoffentlich fällt ihm auf, dass ich keine Gegenfrage gestellt habe, denn ich hasse Small-Talk. Meine Augen schließen sich wieder von selbst und ich spüre die Blicke des Unbekannten auf mir.
Ich träume mich wieder zu Jakob und seiner Mutter, die noch gar keinen Namen hat. Ich taufe sie Stefanie.
„Ich werde mir einen Kaffee holen. Möchten Sie auch etwas?“
Hat der Typ nichts Besseres zu tun, als mit einer fremden Frau zu quatschen, deren Augen geschlossen sind?
„Ein Brötchen mit Tomate-Mozzarella und ein stilles Wasser, bitte. Danke.“
„Wie die Dame wünscht.“ Er dreht sich von mir weg und läuft entschlossen in Richtung Bord-Bistro. Ich kann nicht einmal erwidern, dass das eigentlich ein Witz war. So würde ich zumindest etwas zu essen bekommen.
Es lohnt sich nicht, mich zu Jakob und seiner Mutter Stefanie zu beamen. Das Bord-Bistro ist nur einen Waggon von uns entfernt. Solange keine Menschenmasse ansteht oder der fremde Typ eine Großbestellung aufgibt, müsste er gleich zurück sein.
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