„Es tut mir sehr leid für Sie, aber ich muss wirklich dringend auf die Toilette. Wo müssen Sie denn heute dienstlich umsteigen?“
„Gar nicht. Ich fahre durch bis Kiel und muss dort übernachten, bis ich morgen wieder den Zug in Richtung Süden nehmen kann.“
„Kommen Sie doch noch mal vorbei, wenn Sie eine Art Pause haben, ich muss dringend für kleine Ladys.“
„Entschuldigung, aber natürlich“, die Mitarbeiterin weist die ihr folgenden Gäste an, Platz für mich zu machen. „Spätestens nach dem nächsten Bahnhof gehe ich wieder meine Runde.“
Sie läuft an mir vorbei, gefolgt von einigen, die ich schon einmal gesehen habe. Ich bin auf dem Weg in die andere Richtung.
Auf der überraschend sauberen Toilette entspanne ich mich kurz. Nur das Rattern der Schienen unter mir und ich. Ein komisches Gefühl, halb entkleidet in einem beengten Raum zu sein, die kalte metallische Kloschüssel an meinem Hinterteil zu spüren und die kleinen Erschütterungen der Fahrt zu genießen.
Plötzlich durchfährt mich ein Zucken. Was war das? Blitz? Donner? Hat das Wetter umgeschlagen? Die Wettervorhersage von gestern hat etwas anderes angekündigt.
Ich beeile mich das WC wieder freizugeben, betätige die Spülung und zupfe meine Kleidung zurecht. Gegenüber der Toilettentür erkenne ich den Wetterumschwung durch die Fenster, denn meine Vermutung bestätigt sich tatsächlich: Das Wasser stürzt aus dem Himmel und eine Regenwelle überfällt uns. Die kreischenden Blitze und der grollende Donner lassen die Fahrgäste immer wieder zusammenschrecken. Als ich wieder auf dem Weg zu meinem Sitzplatz bin, hat sich die Atmosphäre im Zug verändert. Vorhin war sie noch fröhlich und alle Menschen erfreuten sich an der Reise im Zug. Jetzt schaue ich in verängstigte Gesichter und man könnte meinen, in der nächsten Sekunde würden Dementoren den Zug übernehmen.
Ich habe keine Angst vor Gewitter. Ich liebe es, wenn die Natur laut wird und uns Regen schenkt. Zurück auf meinem Platz quetsche ich mich an Nikolas vorbei, der mich beruhigen will: „Keine Angst. Ist nur Gewitter. Geht bestimmt gleich wieder vorbei. Heute ist doch nur Sonnenschein gemeldet.“
Im engen Spalt zwischen Sitzplatz und Sitzlehne stehend, weise ich die Beruhigung seinerseits ab: „Danke, Nikolas, aber ich habe keine Angst.“
Durch eine starke Erschütterung des Zuges stolpere ich über meine eigenen Füße und verliere das Gleichgewicht.
„Oh, nein.. ABBY VORSICHT...“
Zu spät. Der Zug rast etwas zu schnell in die nächste Kurve, ich verliere den Halt im Stehen und knalle an die Fensterscheibe. Zum Glück ist im heutigen Jahrhundert dickes Glas verbaut, so kann es nicht springen. Aber eine schmerzende Beule entsteht viel zu schnell und verziert nun meinen Hinterkopf. Alle bekannten Gesichter im Abteil heben ihre Köpfe und sprechen mir gut zu.
„Oh nein, wir brauchen HILFE!“
Nikolas ist außer sich und die Panik steigt in ihm hoch.
„IST EIN ARZT HIER?“
Die Zugmitarbeiterin ist aus dem Nichts aufgetaucht und gleich zur Stelle.
„Beruhigen Sie sich, junger Mann. Machen Sie mir Platz und ich rette Ihre Freundin.“
„Sie ist nicht meine...“
„Er ist nicht mein...“
„Wie auch immer. Halten Sie still, Abbygail. Ich schaue mir das kurz an.“
Unsere treue Zugbegleiterin ist schon vor Ort und kümmert sich um mich.
„Es ist nur eine Beule, die wir gleich kühlen werden. Und Sie, junger Mann, rufen mich, wenn sie einen weiteren Kühlakku braucht. So haben Sie etwas zu tun und befreien sich von Ihrer Panik.“
„Danke. Ich meine...“
„Es wird Zeit, dass Sie meinen Vornamen erfahren. Ich habe Ihnen schließlich schon aus meinem Privatleben vorgejammert. Ich heiße Bea.“
„Vielen Dank, Bea. Sie haben Hände wie ein Masseur“, lobe ich sie.
Kurz muss ich überlegen, woher Bea meinen Vornamen kennt, bis es mir einfällt. Sie hat meine Fahrkarte eingescannt und sich wohl meinen ungewöhnlich seltenen Namen gemerkt.
Bea löchert mich: „Haben Sie Kopfschmerzen, Abbygail? Schwindel? Übelkeit? Der Beule nach war es ein heftiger Aufprall.“
„Nein, mir geht es gut. Bitte nennen Sie mich doch Abby, Abbygail sagt wirklich niemand mehr zu mir. Falls ich mich doch schlechter fühle, habe ich meine Reiseapotheke im Rucksack dabei. Vielen Dank.“
Bea streckt mir ihren erhobenen Daumen entgegen und klopft Nikolas aufmunternd auf die Schulter. Sie schaut sich um, ob alle Passagiere außer mir unversehrt geblieben sind.
„Du sagst Bescheid, wenn ich etwas tun kann?“, fordert mich Nikolas auf.
Ich nicke nur. Die Hundebesitzerin, das männliche Paar und sogar der Opa mit seiner Enkelin versichern mir ihre Hilfe, falls ich etwas brauchen sollte. Ich unterhalte mich noch kurz mit Bernd und Milena.
„Du bist also mit deinem Opa unterwegs? Und wo soll es hingehen?“
„Wir holen einen Welpen in Göttingen ab. Ich habe ihn mir aussuchen dürfen und er wird bei Opa wohnen, aber ich werde so oft bei ihm sein, wie es geht. Meine Eltern wollen keine Tiere im Haus…“ Es sprudelt nur so aus dem Mädchen heraus. Ich schätze sie ist neun Jahre alt und wie alle neunjährigen Kinder zuckersüß.
Britta, Mike und Travis gestehen mir außerdem noch etwas: „Wir haben deine Geschichte von Jakob und Stefanie mitgehört. Du darfst nicht mehr flüstern, bitte. Wir wollen wissen, wie es weitergeht…“ Ihre Blicke verraten mir, dass sie es nicht böse meinen. Ich gebe ihnen mein Wort, nicht mehr zu flüstern und freue mich darauf, ein ganzes Zugabteil unterhalten zu dürfen, doch im nächsten Moment verabschiedet sich das Adrenalin aus meinem Körper. Mein schmerzender Kopf sinkt schwer auf Nikolas Schulter.
Als ich aufwache, habe ich den Bahnhof in Kassel verpasst, an dem wir gehalten haben und weitere Fahrgäste zugestiegen sind, die Bea abscannt. Also das Ticket von ihnen, nicht die Personen. Ich bin wohl noch etwas benebelt. Hoffentlich flippt meine beste Freundin später nicht aus, wenn sie mich sieht und will die Bahn verklagen. Ich höre sie schon schimpfen: „Was ist mit deinem Kopf passiert? Diese Züge sind einfach nicht sicher!“
„Abby, möchtest du etwas essen?“
Nikolas hat offensichtlich mitbekommen, dass ich erwacht bin. Ich öffne meine Augen langsam und schüttele vorsichtig meinen Kopf.
„Ich gehe mir schnell einen Snack holen, bin gleich wieder da“, erklärt er, „oder soll ich hier bleiben?“
„Danke, ich kann alleine auf meinem Sitzplatz sitzen.“ Ich lächele vorsichtig. Nikolas nimmt dies als Bestätigung meines Befindens und verschwindet durch die Schiebetür.
Ich schaue mich etwas in dem Abteil um. Das Pärchen, das auf dem Weg in seinen Wanderurlaub ist, sitzt noch auf seinem Platz. Der ältere Herr und seine Enkelin sind auch noch da und spielen Karten. Britta und ihr Hund Hektor sitzen etwas weiter vorne im Abteil. Sie haben offensichtlich aufgrund des Gestanks einen neuen Sitzplatz. Die blinde Dame mit ihrem Hund, die ich am Bahnhof beobachtet habe, sitzt ein paar Reihen hinter mir.
Bea kommt gerade überraschend vorbei.
„In einem Abteil hat sich, wie ich schon erwähnt habe, ein unangenehmer Geruch verbreitet. Stell dir vor, jemand hat eine Sprühflasche dabeigehabt, auf der Schweinemist steht. Da hat sich wohl einer einen Scherz erlaubt. So etwas habe ich in meinen ganzen Jahren in der Bahn noch nie erlebt.“
Sie läuft erheitert davon und Nikolas setzt sich wieder neben mich. Einen frisch duftenden Kaffee stellt er vor sich auf den Klapptisch und beißt herzhaft in ein Salami-Brötchen.
Nachdem er meinen Blicken gefolgt ist, bemerkt er: „Ich hoffe es stört dich nicht, da du ja Vegetarierin bist.“
Ich zucke mit den Schultern.
„Wie aufmerksam, aber nein. Iss ruhig die armen Tiere.“
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