Es dauerte nur wenige Tage, da vernahm sie, nun sei die Corona-Infektion auch in Österreich und Deutschland angekommen. Von da an infizierten sich täglich mehr und mehr Menschen. Es war offenbar nicht mehr aufzuhalten. Die Corona-Krise nahm unaufhaltbar ihren Lauf durch ganz Europa. Ältere Leute waren am meisten betroffen; unter ihnen gab es viele Tote. Elli steigerte sich allmählich in eine Angstneurose hinein. Es war nicht gut für sie, stündlich Corona-Nachrichten zu hören, sondern hätte es lieber unterlassen sollen. Morgens, wenn sie aufwachte, machte sie sofort das Radiogerät an, um zu hören, wie sich die Pandemie verbreitete. Ein Jammer, der nun die ganze Welt ergriff. Das öffentliche Leben wurde lahm gelegt und in den Großstädten wurde es plötzlich still wie in einem Wald. Die verhängte Quarantäne wirkte. Niemand durfte mehr nach draußen gehen, außer zum Supermarkt, zur Apotheke oder zum Arzt. Straßen und Gehwege wurden fast leer, Städte schienen unbewohnt. Die Welt versank in einen Dornröschenschlaf. Aber man konnte jetzt Wohnungen besser lüften, ohne Angst haben zu müssen, seine Lungen mit Feinstaub und Autoabgasen zu verpesten, was der einzige Vorteil war. Die autoleere Stadt machte die Luft auf einen Schlag sauberer. Dies fand sie prima. Jetzt blieben die Menschen daheim in ihren vier Wänden und gingen oder fuhren nicht mehr zur Arbeit außer diejenigen, die in systemrelevanten Berufen tätig waren wie Ärzte, Krankenschwestern, Apothekerinnen, Altenpflegerinnen, Supermarktbedienstete, Lastwagenfahrer, die lebensnotwendiges Gut beförderten. Geschlossen wurden ab sofort Geschäfte, Gaststätten, Cafés, Kirchen, Museen, Ausstellungen, Pinakotheken, Kultureinrichtungen jeder Art, Sportstätten, alles musste augenblicklich schließen, außerdem Schulen, Kitas, Bordelle, Universitäten usw. Kein Flug fand mehr im Innland oder ins Ausland statt und deutsche Urlauber wurden noch schnell aus fernsten Ländern heimgeholt, so auch Jupp Kappel, der sich überall auf der Welt mehr zuhause fühlte als bei Elli daheim. Nun, nachdem er zuhause eintraf, musste er schön brav das Haus hüten. Seine Frau, die er im Laufe der Ehe satt bekommen hatte, musste ihm Gesellschaft leisten und ihn bedienen von früh bis spät. Sie wusch seine Schmutzwäsche, bügelte, ging einkaufen kochte, putzte und so weiter und so fort. Dass er bekocht und verwöhnt wurde, war ihm während dem Lockdown unsagbar wichtig.
Nach ihren Übersetzungsarbeiten am Vormittag spazierte Elli im hauseigenen Park herum. Freilich der schöne Park würde ihr im Falle der Trennung sehr fehlen. Aber sie hatte genug von Jupp, der sie all die letzten Jahre mit häuslicher Gewalt konfrontiert hatte. Nun beruhigte er sich mit Wein, zwei Flaschen am Tag. Sie wollte fort von ihm, allerdings musste zur Zeit wegen Corona alles verschoben werden. Man stellte sich aufs Warten ein. Elli konnte ihre Freundin jetzt im beginnenden Frühling nicht zu sich einladen, was sie vorgehabt hatte. So telefonierten sie weiterhin miteinander, auffällig oft, meistens, wenn sie im hauseigenen Park spazieren ging, fern von Jupp, der sich meistens im Hause aufhielt, murrend und stöhnend. Und falls Jupp plötzlich im Park erschien, steckte sie sofort ihr Smartphone ein, denn er sollte von ihrem Telefonat mit Doris nichts mitbekommen. Nicht dass er von ihren Plänen hörte und sie davon mit Gewalt abhielte. Sie hatten sich ja schon lange nichts mehr zu sagen und obwohl er seit einem Jahrzehnt nicht mehr mit ihr geschlafen hatte, machte er jetzt in der Corona-Krise manchmal Anzeichen, sie zum Sex zu zwingen. Es fehlte ihm sein sonstiges außereheliches Sexangebot. Nach Ellis Weigerung, setzte er sich voller Wut ins Auto und fuhr fort. Leise hatte er sich zuvor an sie herangemacht und ihr verführerisch ins Ohr gehaucht: „Hättest du jetzt Lust, Schatz? Komm mit!“
„Nein“, hatte sie sofort geantwortet. Daraufhin fluchte er laut und unanständig und gab ihr etliche saftige Ohrfeigen, dass ihr Kopf nur so hin und her wackelte. Der Universitätsprofessor, so wie er sich auch nannte, obgleich er eher nur ein einfacher Aushilfsdozent war, schreckte vor gar nichts mehr zurück; er hatte sich das Schlagen schon früh nach den ersten Ehejahren angewöhnt und sich nicht geniert. Der Traum ist aus, dachte damals Elli voller Schreck. Ihre vorerst so große Liebe zu ihm starb langsam hin.
„Komm schon“, drohte er ihr, als er nach der offenbar erfolglosen Ausfahrt nachhause kam, „ich brauche dich jetzt!“ Und als sie sich wieder weigerte, zog er sie gewaltsam an den Haaren mit sich fort, wobei sie sich sträubte, so gut sie nur konnte. Er gab ihr etliche Fußtritte und schleifte sie am Boden entlang und warf sie grob in sein Bett, aber ihr gelang es, ihm zu entkommen. Anschließend sagte er: „Du bist keine Frau mehr! Du hast mir zu gehorchen! Du darfst dich nicht verweigern, sondern musst mir dem Gesetz der Ehe nach gehorchen und gefügig sein! Komme mir nächstes Mal also mehr entgegen! Eine Frau, die sich dabei sträubt, halte ich für unmöglich.“
„Muss ich nicht“, schrie sie, aufgelöst in Tränen und Schluchzen. „Ich bin dir nicht verpflichtet, bin dir nicht hörig, da täuscht du dich gründlich. Es soll dergleichen freiwillig geschehen und alles andere fällt heutzutage in die strafbare Rubrik Vergewaltigung, auch in der Ehe, so steht es geschrieben, falls du das heute noch nicht weißt.“ Sie merkte, dass er große Augen machte und dann sich abwandte und nach draußen ging, um wegzufahren.
Am nächsten Morgen verkündete er ihr eine Neuheit: „Ich brauche eine neue Frau, denn mit dir kann ich nicht mehr leben! Du engst mich ein, würgst alles ab. Dein Starrsinn bringt mich noch um den Verstand. Auch das Reisen fällt jetzt flach, was immer meine Flucht aus der häuslichen Enge darstellte. Ach, welch großes Unglück mich jetzt trifft! Es ist geradezu zum Verzweifeln, ja, unerträglich, bei dir zuhause zu bleiben. Das halte ich einfach nicht aus. Ich muss fort. Das Leben hat sich für mich seit der Pandemie verkehrt und total verschlechtert. Mein Leben ist sinnlos geworden. Ich ertrag es nicht mehr.“
Elli schwieg. Warum sollte sie ihn jetzt trösten, ihn, der sie ein Leben lang quälte und vernachlässigte? Alles zog er ihr vor. Er hatte sich nie bemüht, ein gutes eheliches Verhältnis mit ihr aufzubauen. Vor keiner Freveltat schreckte er zurück. Von nichts kommt nichts! Er hatte sie zutiefst beleidigt, beleidigt an einem Stück. Sie hatte kein Herz mehr für ihn, den sie doch einmal so feurig geliebt, aber nun möglichst schnell loshaben wollte. Ohne ein Wort zu sagen, ging sie in ihr Schreibzimmer. Er rief ihr noch nach: „Ja, du bist es gewohnt, zuhause hinter deinem Schreibtisch zu sitzen und deine Übersetzungen zu machen, ohne jegliche soziale Kontakte. Eine Solidarität zu andern kennst du nicht. Hauptsache, dir geht es gut und man lässt dich in Ruh. Darum fällt dir die Quarantäne auch leicht, mir jedoch nicht, der ich täglich aus dem Haus muss, im Universitätsleben beheimatet bin, der viel mit der Studentenschaft und Kollegschaft verkehrt und eine Menge noch andersartiger schwieriger Kontakte pflegt, von denen du gar keine Ahnung hast. Mir fehlt jetzt der Umgang mit Menschen ganz empfindlich. Ich könnte schreien! Ich bin nämlich im Grunde ein ungewöhnlich leutseliger Gesellschaftsmensch, anders als du auf Gesellschaft getrimmt und angewiesen wie der Wald auf Bäume und Regen.“
Auch mir fällt es schwer, Quarantäne einzuhalten, dachte sie, während sie in ihre Schreibstube eintrat und die Türe hinter sich schloss. Zweimal drehte sie den Schlüssel herum. Er soll mich nicht wieder überfallen können und zum Sex zwingen, dachte sie. Dann trat sie ans Fenster und sah hinaus, während sie dachte: Oft stehe ich hier am Fenster, starre hinaus auf ungewohnt verödete Straßenverhältnisse, beobachte mit Sorge die wenigen Vorgänge und Abläufe, die sich draußen noch abspielen, als stehe uns der Weltuntergang bevor, sehe nur vereinzelt und selten noch Mitmenschen, die wahrscheinlich zum Supermarkt eilen oder zum Arzt gehen oder vielleicht Sport betreiben. Jeder hat seinen besonderen Grund nach draußen zu gehen. Ohne triftigen Grund geht niemand mehr nach draußen. „Gehe doch auch nach draußen und treibe Sport, sagte ich gestern zu Jupp, weil er mir trotz allem erbarmte, „mache einen kleinen Dauerlauf, das darfst du doch. Sport darf man betreiben, wurde am Radio gesagt, oder ergehe dich öfters im Garten, so wie ich das täglich tue, hole dort tief Luft oder lese in einem spannenden Buch, was dich auf andere Gedanken bringt, dich vom Alltagsdruck befreit. Du befasst dich nur mit Fachliteratur, mit Expertisen, das ist zu wenig und auch in unserer jetzigen angespannten Situation abwegig und nicht wünschenswert, weil sie nicht entspannt und auch nicht in Bann schlägt, oder du schaust fern, nicht wahr, das kann dich auf Dauer auch nicht befriedigen.“
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