Hinter den geschwollenen Lidern erschien ein freches Gesicht mit blitzenden Augen, nachtdunkel wie die Locken, die über den bunten Fetzen quollen, der um die Stirn geknüpft war. Ich bins! schrie der Zigeuner und riss feixend sein Maul auf. Sie kannte ihn nicht und glaubte ihn doch zu kennen. Er hörte nicht auf zu lachen. Sein drahtiger Leib bebte, er stützte die Fäuste unter seine Rippen, als drohe er zu bersten. Madam! Sie wollten doch immer wissen, wieso die Elisabeth so „zigeunersch" ausschaut. Das kommt von mir! Wir zogen über den Hellweg nach Westen. Ich fand ein Mädchen hinter den Sträuchern am Bach, die wusch ihren Brüdern Hosen und Blusen. Kerle, die nach Kohle scharrten. Ich warf das Mädchen ins Gras. Ließ einen Ring aus schwarzem Silber bei ihr. Ihre Brüder haben mich erschlagen. Aber sie trug den Keim in sich: mein Blut. Meine Kraft. Und in dem Kinde mit dem unpassenden Namen, Elisabeth!, das dir fremder ist, Madam, als deine andern, sind sie auferstanden.
Ja. Es gab diesen Ring! Ida erinnerte sich. Ömmi, die Urahne, verwahrte ihn im Leinensäckchen mit anderen rätselhaften Dingen. Er rostet nicht, hatte die Ahne gesagt und den Ring an ihrer rauen Schürze gerieben, eine schwarze Schlange, die sich in den Schwanz biss. Glanz erschien dann auf der ziselierten Schuppenhaut des Reptils. Ein Zauberring, murmelte zahnlos die Alte. Blut klebt daran. Hab ihn von meiner Urahne. Brachte ihr kein Glück. Ich will ihn mit ins Grab nehmen, Ittlkind, ihn ihr zurückbringen.
Und Ida hatte der Urahne versprochen, wenn es soweit war, ihr den Ring aufs Herz zu legen. Und hatte es getan.
Bist du hier, Ömmi?, fragte Ida hinter ihren geschwollenen Lidern.
Krummgezogen trat die Alte aus Nebeln, die dichter wurden. Sie ging im dunklen Sonntagsstaat. So hatte sie im Sarg gelegen, ihr runzliges Gesicht ganz glatt, und Ida hatte sehen können, wie schön sie war. Der Sarg stand offen in der Kammer auf zwei Stühlen. Das Kind stahl sich hinein und war allein mit ihr. Es blickte in das von der Haube festlich umrahmte Gesicht und streckte die Hand hin, auf der es den Ring vorzeigte. Die Urahne regte sich nicht. Das Kind öffnete ihr einen Blusenknopf. Zum Vorschein kam das Hemd, von Ömmi selbst gewebt, und Ida schob gewissenhaft den Ring darunter auf die verabredete Stelle. Knöpfte die Bluse zu und sagte: Nu komm in Himmel!
Wo bist du, Ittlkind? Du häwst mich doch rufen.
Die Sterbende spürte, als sie der Gestorbenen begegnete, die dunkle Geborgenheit, die zuverlässige Wärme, die sie mit dem Wermutduft aus den Röcken der Alten durchdrang, wenn sie ihr verheultes Gesicht hineingedrückt hatte, ein winziges Kind, das auch sie einst war.
Brauchst dir nich förchten, min Deern, allens wird gaud, murmelte die Alte.
Der Ring? fragte Ida. Haste den Ring noch?
Die Urahne kicherte. Willst ihn woll sehen? Bist gieprig, was? Allens, allens sein da! Ganze Sippschaft. Meine Urahn auch. Die mit dem Zigeuner! Allens warten dein.
Ida beäugte hinter ihren geschwollenen Lidern die fremd vertrauten Gestalten, die sich um sie drängten, Köpfe, die sich über andere schoben. Gesichter, verbrannt von Sonne oder geschwärzt von Kohle, Männer und Frauen jeglichen Alters, nicht anders als die, unter denen sie aufwuchs, mit denen sie lebte. Ein ganz junges Mädchen mit rotblonden Zöpfen drängte sich dicht heran. Ich bins, kreischte sie. Nach mir hast du gefragt. Ich habe mich hingelegt für den Zigeuner. Sie haben ihn umgebracht. Sie waren voller Hass, meine Brüder, gegen Fremde. Mein Kind musste ich verstecken vor ihnen. Betteln musste ich um Brot.
Die Menge drängte sich um die Sterbende, schamlos die Augen auf ihre Not gerichtet, nicht leben zu können und noch nicht tot zu sein. Vergeblich suchte sie ein Gesicht, an das sie sich halten konnte. Gierig schnappten die Münder nach Luft wie der ihre. Dalli! Dalli! machten die Zungen, die Augen, die Hände in ihre Richtung. Sie fühlte den Schrei in sich wachsen ohne die Silben zu kennen, bis er sie gänzlich erfüllte: Muttaa!
Der Spuk war verschwunden.
Schleppenden Schrittes näherte sich die Gerufene. Am Hals ihre Bluse stand offen, den Kropf nicht verbergend. Die Augen blickten gequälter noch als in der Erinnerung Idas. Ihr Haar lag glänzend, mit Schmalz gefestigt, am Kopfe.
Ich bin hier, sagte sie.
Idas Herz schlug sehr langsam. Elisabeths Finger am Puls der Mutter verrieten sich nicht. Elsa blickte ihrer Schwester ins Gesicht und flüsterte: Wie lange dauert es noch?
Elisabeth zuckte die Achseln.
Hinter ihren geschwollenen Lidern versuchte Ida Teubler die Mutter aus ihrem Gesichtskreis zu drängen, das Auge abzuwenden von ihr. Doch wohin sie es auch richtete, es traf auf sie.
Was willst du von mich?, fragte Ida.
Du hast nach mich gerufen, sagte die Frau.
Ich habe nach dich gerufen! Vor fünfzig Jahren. In eine Nacht, als mich zum Sterben war.
Ich bin dich nachgegangen.
Nachgegangen! Rausgeschmissen hast du mich. Flittchen! Hafenhure! hast du geschrien, den Schuppen verrammelt, wo ich mich verkriechen wollte.
Ich bin dich nachgegangen, beharrte die Frau, das Schneegestöber war so dicht. War auch dunkel. Wie weiß ich, dass du von Aplerbeck bis Schüren gehst. In dein Zustand!
Zu Tante Änne, dachte Ida. Meine Tante Änne!
Die hagere, feste Gestalt gesellte sich zu Idas Mutter.
Sie hat mich beigestanden, Mutta! Deine Schwester hat mich nicht von ihre Schwelle gewiesen hinaus in die Februarnacht.
Ittl, wiederholte Tante Änne wie vor langer Zeit am Sarg der Mutter, es drückt dir das Herz ab, ihr nicht verzeihen zu wollen. Sie ist tot. Sie ist mit deinem Hass gestorben. Du brauchst nicht über den eigenen Tod hinaus Recht haben müssen. Verzeih ihr. Dann wird dir leichter sein.
Dämmerung nistete in den Winkeln des Zimmers. Die Töchter rückten die Stühle zur Wand, traten ans Bett und Elsa berührte die Hände der Mutter, die unruhig über die Bettdecke fuhren und rief sie. Über den fleckigen Wangen hoben sich die geschwollenen Lider um ein winziges.
Sag was! flüsterte Elisabeth.
Mutter! Wir sind bei dir! Elsken und Elli!
Die Lider schlossen sich. Nichts deutete darauf hin, dass die Mutter die Worte gehört hatte.
Elisabeth führte Elsa hinaus aus dem Zimmer, dem Haus, durchs Tor, durch den Gesang der Amseln, das Schlagen der Finken, hin durch den Maienabend, der sich auf die Felder neben der Landstraße legte, unter letzte Lerchentriller und verglühende Farben. Sie waren erschöpft. Zu ihrer Rechten zog die Nacht herauf. Hinter ihrer linken Schulter gewahrte Elsa den massigen, schwarz in einen grünlichen Himmel ragenden Wasserturm des Krankenhauses. Auf seiner obersten Zinne lag ein Abglanz der untergegangenen Sonne. Sie sah ihn schwinden. In diesem Augenblick.
Elisabeth sagte: Mutter wird die Nacht überstehen. Sie wartet auf Luise.
Elsa war zu elend, um das Angebot ihrer Schwester auszuschlagen, bei ihr zu übernachten. Deren Schlafzimmer bebte bis nach Mitternacht vom Straßenverkehr. Elisabeth, über zwanzig Jahre an diesen Lärm gewöhnt, schlief.
Elsa machte die Umrisse des gewaltigen Wäscheschranks im Dunkel aus. In ihm hortete die Schwester Bettwäsche und Tischdecken, Frotteetücher und Nachthemden, als sammle sie eine Aussteuer oder als brächen demnächst neue Notzeiten an. Auf dem Schrank stapelten sich bis zur Zimmerdecke Kisten und Kartons.
Elsa dachte, dass sie an Maria schreiben müsse. Sie scheute die Nüchternheit der Tochter in Lebenslagen, die sie, Elsa, trostlos machten. Maria steckte in Prüfungen und würde nicht kommen können.
Am Morgen fuhren sie zum Hauptbahnhof, hoffend, dass Luise eine Einreisegenehmigung erhalten habe.
Der Querbahnsteig war beflaggt. Elsa las mechanisch das Transparent über dem Ausgang zur Westhalle: FEST VERBUNDEN MIT DEN MASSEN - VORWÄRTS ZUM SIEG DES SOZIALISMUS. Der Interzonenzug aus Köln über Dortmund lief ein.
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