Nun hatte ich ein Auto, eine Wohnung und war auf bestem Wege, genauso zivilisiert zu leben wie damals in Deutschland. Nur ein Telefon fehlte noch. Im Moment brauchte ich nicht wirklich eins. Unerreichbar sein hat auch etwas Befreiendes an sich. Nichts Unangenehmes konnte auf diesem Weg zu mir ins Haus dringen. Geschützt wie im Mutterleib.
Das Auto führte zu einer enormen Steigerung meiner Lebensqualität. Ich fuhr, wann und wohin ich wollte, zu abgelegenen Stränden, in die Wüste hinein, zu Freunden, zur Arbeit.
Ich hatte es gut, ich hatte es wirklich gut, - - - und doch konnte ich nicht normal essen. W A R U M ? Was brauchte ich denn noch? Was gab es denn überhaupt noch zu brauchen?
Der englische Barmann Mike sprach mich an: „Ich habe gehört, du hast ein Zimmer frei, kann ich mich bei dir einmieten? Ich muss da raus, wo ich jetzt bin.“
Die Situation kenne ich. Vor kurzem erging es mir ebenso. Jetzt hatte ich nicht nur ein Apartment, sondern zusätzlich Ravens Zimmer mit dem großen Doppelbett, eingebautem Kleiderschrank und dem kleinen Nachttisch. Ich benutzte es nie, betrat es nicht einmal. Ein Israeli würde daraus Geld machen. Ich verdiente genug, das war es nicht. Ich wollte einfach erfahren, wie es ist, ein Zimmer zu vermieten, bin noch nie Zimmervermieterin gewesen.
„Ich komme auch nur zum Schlafen!“, fügte er aus großen Kulleraugen lächelnd hinzu. Mike war ein großer kleiner Junge mit lockigem Haar, immer einen lustigen Spruch auf den Lippen, Ausländer und Nicht-Jude wie ich. Fühlte sich europäisch an, familiär.
„Okay, für fünfzig Dollar im Monat kannst du das Zimmer haben. Wie lange willst du bleiben?“
„Das hängt davon ab, wann du mich rausschmeißt“, grinste er.
Er kam, war kaum zu Haus, ich bekam ihn tagelang nicht zu Gesicht. Er zahlte seine Miete nicht, stattdessen pumpte er mich um Geld an. Wenn er da war, ließ er seine Sachen überall liegen. Ich hatte einen Fehler gemacht. Das hätte ich mir eigentlich denken können. Ich wollte ihn wieder loswerden.
„Mike, wenn du was anderes zum Wohnen finden könntest, wäre das prima.“
„Jaja, ich habe schon etwas an der Hand, ich muss nur noch mit dem Mann reden.“
Ein Monat verging.
„Mike, wie sieht’s aus?“
„Ja, ich hab schon was, ich muss das nur noch abklären, der Typ ist immer nicht da. Sobald es fest ist, lass ich es dich wissen.“ Dann war er wieder für ein paar Tage verschwunden.
Als ich vom Strand zurückkehrte, entdeckte ich beim Aussteigen, dass mein Küchenfenster offen stand. Ich hätte schwören können, es war geschlossen, bevor ich ging. Zwei Stufen auf einmal nehmend hastete ich die Treppe hoch, schloss auf und trat ein. Verwundert sah ich einen Mann auf meinem Sofa sitzen, klein, drahtig, aus schmalen Augen schaute er mich an.
„Wer bist du?“, fragte ich ihn.
„Ich bin Ilan und du?“
„Ich bin Marlisa. Was machst du hier?“
„Ich will zu Mike. Man sagte mir, dass er hier wohnt. Ist das richtig?“
„Er ist mal hier und mal nicht hier, seine Sachen sind hier. Ich weiß nicht, wann er kommt. Wie bist du hereingekommen?“
„Durch das Küchenfenster.“
„Es war zu. Wie hast du es aufgemacht?“
„So!“, er machte eine geheimnisvolle, hebelartige Bewegung und guckte wie ein Zauberer.
„Warum hast du nicht vor der Tür gewartet?“
„Ich wollte eben rein.“
„Woher kommst du?“
„Aus dem Gefängnis.“
„Wie aus dem Gefängnis …?“
„Ja, wirklich, ich komme gerade aus dem Gefängnis. Heute ist mein erster freier Tag. Ich fühle mich wie neugeboren“, er strahlte übers ganze Gesicht.
„Wie lange warst du drin?“
„Ein Jahr --- viel Zeit.“
„Was hast du denn verbrochen?“
„Ist nicht wichtig“, abwehrend hob er seine Hände, drehte das Gesicht beiseite. „Keine Angst. Ich habe niemanden umgebracht oder vergewaltigt. Ich bin okay.“
Er sah extrem konzentriert aus. Sein Körper bestand aus geballten Muskelpaketen. „Wieso hast du solche Muskeln?“
„Willst mal anfassen?“ Stolz hob er einen Arm in die Luft.
Ich ging zu ihm und fasste einen der vorstehenden Muskelstränge an. „Boah, die sind ja hart wie Stein.“
Er zog seine Hosenbeine hoch, streckte mir seine Wade hin. „Schau hier! Die Beine auch. Ich habe alle möglichen Muskeln trainiert. Weißt du, wenn du so lange in einer Zelle hockst, dann musst du dir schon was einfallen lassen, um nicht verrückt zu werden. Ich habe Sport gemacht. Jeden Tag habe ich stundenlang Liegestütze und so Sachen gemacht, was man eben in einem kleinen Raum machen kann. Du kannst jeder Zeit mit deinem Körper spielen, verschiedene Muskeln anspannen, auch im Sitzen, auch im Liegen, anspannen, entspannen, anspannen, entspannen. Ich musste mich einfach beschäftigen, sonst wäre ich durchgedreht. Jetzt bin ich topfit, mein Körper und mein Geist.“
„Willst du einen Kaffee?“
„Nein danke, ich muss jetzt los. Ich komme ein anderes Mal wieder.“
„Dann wartest du aber bitte, bis ich komme und gehst durch die Tür.“
„Mach ich. Lehitra’ot, bye.“
Ich beschloss, Tel Aviv zu erkunden.
Eine einsame Straße, die Arawa, führte von Elat etwa zweihundert Kilometer schnurgeradeaus Richtung Norden. Die Wüste berauschte mich nach wie vor. Ich konnte es kaum fassen, ich durchquerte tatsächlich mit meinem eigenen Auto den Negev, fuhr wie in Trance, befreit von allem. Konnte ich mich denn nur in der Wüste frei fühlen?
Als sich die Straße teilte, trieb es mich spontan rechts ab Richtung Totes Meer. Mal sehen, was es damit auf sich hat.
Auf dem Vorplatz parkte nur ein einziges Auto. Im Wagen zog ich mich um, stieg im Bikini aus und ging hinunter ans Wasser. Das Tote Meer breitete sich ruhig vor mir aus. Die andere Uferseite, nicht weit entfernt, gehört Jordanien. Etwas war hier anders als sonst. Der Sound. Von dem Pärchen, das sich weit hinten leise unterhielt, konnte ich jedes Wort vernehmen. Die Stimmen waren unglaublich präsent. Diesen Effekt kenne ich aus Musikstudios, wo man die Präsenz einer Stimme hervorheben kann. Live habe ich das noch nie gehört. Die Welt klingt hier anders als überall woanders. Wir befinden uns in einem Tal am Wasser unterhalb des Meeres-spiegels. Das Tote Meer ist der tiefste Punkt der Erde.
Ehrfürchtig machte ich einen Schritt ins Wasser. Warm. Langsam ging ich vorwärts. Als das Wasser bis unterhalb meiner Knie stieg, konnte ich nicht mehr weitergehen. Trotz meines Körpergewichts wollte das Wasser meine Füße nicht bis auf den Grund lassen. Der hohe Salzgehalt gab dem Körper Auftrieb. Ich strengte mich richtig an, um vorwärts zu kommen, doch das Wasser drängte die Beine wieder an die Wasseroberfläche, sodass ich schließlich hinfiel. Nun lag ich. Der Bauch hing nach unten, Hände und Füße ragten aus dem Wasser. Den Kopf hielt ich hoch. Je tiefer ich meine Hände unter Wasser tauchte, umso mehr Auftrieb bekamen meine Ellenbogen. Drückte ich meine Füße unter Wasser, kam mein Po hoch. Der ganze Körper ist nicht unter Wasser zu kriegen, nur einzelne Teile. Schwimmen unmöglich, so sehr ich es auch probierte, keine Chance. Aber ich konnte meinen Körper zum Wackeln bringen, schaukelte so lange hin und her, bis ich mich mit einem Schwung drehte und schwupp – lag ich auf dem Rücken wie ein Käfer, Po nach unten, Hände und Füße über Wasser. Ich kicherte vor mich hin. Das war ja nicht zu glauben. Die Gesetze der Schwerkraft schienen hier aufgehoben. Ich befand mich zwar nahe am Ufer, aber wie sollte ich denn da hinkommen? Sich einfach hinstellen und aus dem Wasser rauslaufen, daran war überhaupt nicht zu denken, obwohl es hier so flach war, dass ich locker hätte stehen können. Selbst der stärkste Mann könnte sich hier nicht hinstellen. Man bekommt sozusagen kein Bein an den Boden. Lachend wackelte und schunkelte ich mich irgendwie so weit, dass ich mit einer Hand den Boden unter mir berühren konnte. Dafür stemmte sich der Bauch aus dem Wasser, aber immerhin konnte ich mich auf diese Weise dicht genug an den Strand ziehen, um mich hinstellen und rausgehen zu können. Schnurstracks begab ich mich zu dem kleinen Kiosk.
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